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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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    Und im Vergleich dazu nun das! Mr Pinto steckte die Gabel in seinen Teller. Zwei armselige braune Hühnchenstücke neben lauwarmem Reis. Kein Gemüse weit und breit.
    Der Biryani Emperor befand sich zwischen Läden, die leuchtend bunte Seidensaris verkauften, was den Gästen das unspektakuläre Essen nur noch bewusster machte. Es war ein Sonntagabend, und für die beiden Freunde war der Sonntagabend
biryani-Abend.
In sonstigen Belangen konservativ, waren sie an den
biryani-Abenden
tollkühn und probierten jede Woche ein anderes Lokal aus. Mr Pinto hatte festgestellt, dass über den Biryani Emperor viel in den Zeitungen stand, wie berichtet wurde gehörte er sogar zu den «zehn bestgehüteten Geheimnissen Mumbais».
    «Biryani Emperor of Bombay. Was für ein Schwindel, Masterji.»
    Da von seinem Freund keine Erwiderung kam, blickte er auf. Er sah, wie Masterji an die Restaurantdecke starrte.
    «Eine Ratte?»
    Masterji nickte.
    «Wo?»
    Das Dach des Biryani Emperor wurde von Holzbalken getragen,und auf einem von ihnen war plötzlich ein Nagetier aufgetaucht.
    «Boy!», brüllte Masterji. «Sieh dir das Ding da oben auf dem Balken an!»
    Der Boy – ein Kellner mittleren Alters – schaute nach oben. Unbeeindruckt von der ganzen Aufregung lief die Ratte weiter den Balken entlang wie ein Leopard auf einem Ast. Der Boy gähnte.
    Masterji schob sein
biryani,
das nicht einmal zur Hälfte gegessen war, dem Boy entgegen.
    «Es gibt bei mir eine Regel, und deshalb kann ich das nicht essen.»
    Masterji hatte eine «Eine-Ratte-Regel» – besuche ein Lokal, in dem auch nur eine einzige Ratte gesichtet wurde, kein zweites Mal.
    «Sie und Ihre Regel.» Mr Pinto nahm sich vom
biryani
seines Freundes.
    «Ich konkurriere nicht gern mit Tieren um mein Essen. Schauen Sie sich sie da oben an – hockt da wie Graf Koks.»
    «Um das Leben in Mumbai zu genießen, muss der Mensch seine Regeln ein bisschen flexibel handhaben», sagte Mr Pinto kauend. «Bloß ein klein wenig. Hie und da.»
    Masterji konnte die Blicke nicht von dem Rattenkönig abwenden. Er merkte nicht, dass er mit dem Arm ein Glas umstieß.
    Als der Kellner die Scherben aufsammelte, zog Mr Pinto das Streitvermeidungsbuch heraus und notierte auf Masterjis Sollseite: «Ersatz für zerbrochenes Glas beim Biryani Emperor: 10 Rupien.»
    Nachdem sie das Essen und das zerbrochene Glas gezahlt hatten, gingen die beiden zur Vishram Society zurück.
    «Ratten haben in dieser Stadt immer gegen die Menschen gekämpft, Mr Pinto. Im 19. Jahrhundert gab es hier immer wieder Seuchen. Selbst heute sind die Tiere uns zahlenmäßig überlegen,auf jeden Menschen kommen in Bombay sechs Ratten. Von ihnen gibt es so viele Arten und von uns nur eine. Rattus norvegicus. Rattus rattus. Bandicota bengalensis. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie die Stadt wieder an sich reißen.»
    Mr Pinto schwieg. Wieder wünschte er, dass Masterji seinen Bajaj-Motorroller dabeihätte, dann müssten sie nicht mit vollem Magen zurücklaufen. Er gab Shelley, seiner Frau, die Schuld daran. Nach dem Tod seiner Frau hatte sie Masterji empfohlen, dem Rat eines Reader’s-Digest-Artikels zu folgen und auf etwas zu verzichten, um auf diese Weise der Verstorbenen zu gedenken.
    «Beispielsweise», hatte sie gesagt, «könnten Sie aufhören,
brinjals,
Auberginen, zu essen. Und jedes Mal, wenn Sie sich nach einer
brinjal
sehnen, werden Sie an Purnima denken.»
    Masterji dachte darüber nach. «Ich werde meinen Roller aufgeben.»
    «Nein, nein», protestierte sie. «Das ist zu drastisch.
Brinjals
reichen.»
    Masterji hatte eine Vorliebe fürs Drastische; der Roller wurde abgeschafft.
    Nach einem zehnminütigen Spaziergang erreichten die beiden alten Männer den Markt ihres Wohnviertels, eine Reihe blauer Holzstände, die von weißen Neonröhren oder nackten gelben Glühbirnen beleuchtet wurden und in denen die unterschiedlichsten Dinge gehandelt und Dienstleistungen angeboten wurden; ein Hühnerladen roch nach Geflügelkot und rohem Fleisch, der Stand eines Zuckerrohrverkäufers war von einer Saccharose-Gloriole umgeben, der Kopierer in einem Schreibwarenladen zwinkerte blendende Blitze und ein Friseursalon, in dem sogar zu dieser Uhrzeit Hochbetrieb herrschte, stank nach Rasierschaum und Klatsch.
    Endlich brachte Mr Pinto den nötigen Mut auf.
    «Masterji», sagte er, «warum lassen Sie sich nicht im Mahim-Hinduja-Hospital untersuchen? Die machen auch Check-ups.»
    «Untersuchen? Weshalb?»
    «Es fängt mit D an,

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