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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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hat den Victoria Terminus und das Rathaus, aber die später erbauten Vororte besitzen ihren eigenen neogotischen Stil, denn jeden Abend um sechs steigen Säulen aus Cyclohexan und Schwefeloxid über den Straßen auf, fliegende Pfeiler aus Stickstoffdioxid verbinden sich miteinander, Wirbel aus unverbranntem Kerosin, das unerlaubterweise in den Diesel gemischt wird, kringeln sich empor und kichern wie Wasserspeier, ein riesiges Dach aus Kohlenmonoxid schließt das Bauwerk ab. Und diese Partikel-Kathedrale erhebt sich während der Stoßzeiten über jeder Ampel, jeder Brücke und jedem Tunnel.
    In einem engen Durchgang wie der Khar-U-Bahn erstickt, verbrennt und verheert die Luftverschmutzung die menschliche Haut und die Schleimhäute. Als ihre Rikscha nach zwanzig Minuten Hupen und Stop-and-go endlich den Tunneleingang erreichte, hielt Mrs Rego Sarah ein Taschentuch vor die Nase und wies denJungen an, sich ebenfalls zu schützen. Die Fahrzeuglawine kroch in den verstopften Tunnel hinein, unter einem riesigen Werbeplakat hindurch, das für die Entfernung von Nierensteinen mit den allerneuesten Ultraschallmethoden warb, in dieser primitiven Weise auf dem Weg nach Westen.
    Vor ihnen in der Ferne, wo der Tunnel endete, konnten die drei Regos Licht, saubere Luft und Freiheit sehen.
    Im Schatten einer Gruppe Königspalmen hob eine Frau in einer Burka ihre Gesichtsmaske und flüsterte mit einem jungen Mann. Mrs Rego beobachtete die beiden und dachte:
Ich bin beinahe schon alt. Ich bin achtundvierzig Jahre alt.
    Hand in Hand gingen sie und ihre Kinder den Bandra Bandstand entlang.
    Sie kamen von allen Seiten herbeigeschwappt, als hätte das Meer sie angespült, Mädchen mit goldenen Riemen an ihren Handtaschen, junge Männer, deren muskulöse, rasierte Oberkörper durch ihre weißen Hemden schimmerten; die warme Nacht strich allen Feuchtigkeit auf Stirn und Lippen, die vom Seewind wieder weggewischt wurde.
    Mrs Rego wartete auf den Einbruch der Dunkelheit.
    Die Nacht einer alten Frau ist so kurz; die Nacht einer jungen Frau nimmt den ganzen Himmel ein.
    Als die Straßenlaternen zum Leben erwachten, nahmen sie wieder eine Rikscha, damit sie ihr Bandra wiedersehen konnte, das Bandra ihrer Collegezeit, als selbst die Fassade einer katholischen Kirche den Reiz der Sünde besaß.
    Am National College stiegen die drei aus und wanderten auf ihre ehemalige Nachbarschaft zu.
    An den beleuchteten Ständen der Linking Road kauften Mädchen Handtaschen und Sandalen, genau wie sie vor all den Jahren. Wenn ihr früheres Ich, auf der Suche nach einer Handtasche, auf sie stoßen würde, würde es glauben, dass diessein Schicksal wäre – als Linksradikale in Santa Cruz (Ost) zu landen?
    Auf der Waterfield Road blieb sie vor einem Café stehen und blickte durch das Fenster hinein. Worüber redeten all diese jungen Leute mit den schwarzen T-Shirts und den Schildpattbrillen? Wie fett und glänzend sie alle aussahen, wie glasierte Hühnerbrüste auf einem Bratspieß in einem Restaurantfenster.
    Das kalte Fensterglas an Mrs Regos Nasenspitze fühlte sich wie die Zurechtweisung eines Wachmanns an.
    Noch nicht. Nicht solange du diesen Vertrag noch nicht unterschrieben hast.
    «Ziehen wir nach Bandra, Mummy?»
    «Still. Mummy beobachtet die Leute hinter dem Fenster.»
    «Mummy –»
    «Wir können doch
sowieso
nicht nach Bandra ziehen, stör sie also nicht.»
    «Warum nicht, Sunil?»
    «Weil der Bauherr ein böser Mann ist. Genau wie Karim Ali, der Großonkel Coelho bestohlen hat.»
    «Mummy, lass uns nach Bandra ziehen. Mir gefällt’s hier.»
    Mrs Rego blickte ihren Sohn an, dann ihre Tochter und nickte.

FÜNFTES BUCH
DAS ENDE DER OPPOSITIONSPARTEI

3. JULI
    Ajwani presste die Zitronenscheibe mit seinen dunklen Fingern aus, Kerne und Saft quollen hervor.
    «So fühlt sie sich. Tut so, als wäre sie was Besonderes, eine Sozialarbeiterin, die den Armen hilft, aber je näher der Stichtag rückt, desto mehr geschieht das mit ihrem Gehirn.»
    Mrs Puri funkelte ihn an, sie bückte sich und las die Zitronenkerne vom Wohnzimmerteppich auf. «Lassen Sie das. Ramu könnte darauf ausrutschen.»
    Ramu lag unter seiner blauen Flugzeugdecke, die Tür zu seinem Zimmer war angelehnt; während Ajwani den Tee auf dem Wohnzimmersofa trank, winkte er dem Jungen zu.
    «Ich weiß, dass Shah sich mit Mrs Rego getroffen hat», flüsterte er.
    Ein Teenager aus dem Slum, einer seiner Verbindungsleute dort, hatte einen Mercedes zum Institut fahren sehen. Am nächsten

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