Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
jedes Mannes standhalten konnte, sah kurz in Jodies Augen und dann sofort nach unten. Und plötzlich tauchte von irgendwo tief unten diese vollkommen verrückte Vorstellung auf. Jodie und Stephen zusammen in einer Berghütte, wie sie jagen und fischen gingen. Abends dann ein Lagerfeuer, auf dem das Essen brutzelte.
»Was ist aus ihm geworden? Aus deinem Stiefvater?«
»Starb bei einem Unfall. Er war jagen und fiel einen Felsen runter.«
»So wollte er doch wahrscheinlich am liebsten sterben, oder?« meinte Jodie.
Nach einer kurzen Pause stimmte Stephen zu. »Ja, vielleicht.«
Er spürte, wie Jodies Bein gegen seines rieb. Wieder ein elektrischer Schlag. Stephen stand schnell auf und blickte aus dem Fenster. Ein Polizeiwagen fuhr vorbei, aber die Bullen darin tranken Cola und unterhielten sich miteinander.
Die Straße war verlassen, nur ein paar Obdachlose, vier oder fünf Weiße und ein Schwarzer waren zu sehen.
Stephen blinzelte. Der Schwarze, der einen Sack voller Bier- und Coladosen schleppte, diskutierte lautstark, sah sich suchend um und gestikulierte dabei wild mit den Armen. Offenbar bot er den Sack einem der weißen Penner an, der aber hartnäckig den Kopf schüttelte.
Der Schwarze hatte einen irren Blick, und die Weißen fürchteten sich vor ihm. Stephen beobachtete sie noch ein paar Minuten und setzte sich dann wieder auf die Matratze neben Jodie.
Er legte seine Hand auf Jodies Schulter.
»Ich möchte mit dir besprechen, was wir als nächstes tun werden.«
»Okay, alles klar. Bin ganz Ohr, Partner.«
»Irgendwo da draußen ist jemand, der nach mir sucht.«
Jodie lachte. »Ich glaub, nach allem, was da in dem Haus passiert ist, gibt es einen ganzen Haufen Leute, die nach dir suchen.«
Stephen lächelte nicht. »Aber ich meine jemand ganz Bestimmten. Sein Name ist Lincoln.«
Jodie nickte. »Ist das sein Vorname?«
Stephen zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht... Ich hab noch nie jemanden wie ihn getroffen.«
»Wer ist er?«
Ein Wurm...
»Vielleicht ein Bulle. Oder einer vom FBI? Vielleicht ein Berater oder so was. Ich weiß es nicht genau.«
Stephen erinnerte sich, wie die Ehefrau ihn Ron beschrieben hatte
- so wie jemand einen Guru oder einen Geist schildern würden. Er fühlte sich wieder kribbelig. Er ließ seine Hand an Jodies Rücken heruntergleiten. Sie blieb in der Beuge am unteren Ende liegen. Das ungute Gefühl verschwand.
»Das ist schon das zweite Mal, daß er mich aufgehalten hat. Und er hätte mich beinahe geschnappt. Ich versuche, mir ein Bild von ihm zu machen. Aber es gelingt mir nicht.«
»Was willst du über ihn herausfinden?«
»Was er als nächstes plant. Damit ich ihm einen Schritt vorausbleiben kann.«
Wieder ein leichter Druck auf den Rücken. Jodie schien nichts dagegen zu haben. Er schaute auch nicht zur Seite. Seine Schüchternheit war verflogen. Und der Blick, den er Stephen zuwarf, war seltsam. War das...? Nun, er wußte es nicht. Vielleicht Bewunderung ...
Dann erkannte Stephen, daß es derselbe Blick war, mit den ihn Sheila im Starbucks-Cafe angesehen hatte, als er all die richtigen Dinge gesagt hatte. Allerdings war er bei ihr nicht Stephen, sondern jemand anderes gewesen. Jemand, der gar nicht wirklich existierte. Jodie schaute ihn nun genauso an, obwohl er wußte, wer Stephen war - ein Killer.
Stephen ließ seine Hand weiter auf dem Rücken des Mannes ruhen und sagte: »Was ich nicht weiß, ist, ob er sie aus dem sicheren Haus herausbringen wird. Das ist das Haus neben dem Gebäude, wo ich dich getroffen habe.«
»Rausbringen? Wen? Die Leute, die du umbringen willst?«
»Yeah. Er versucht, meine Gedanken zu erraten. Er denkt...« Stephens Stimme verklang.
Denkt...
Ja, was dachte Lincoln, der Wurm? Würde er die Ehefrau und den Freund rausbringen, weil er vermutete, daß Stephen es noch einmal versuchen würde? Oder würde er sie dort lassen, in der Annahme, daß Stephen auf eine neue Gelegenheit an einem anderen Ort wartete? Und wenn er denkt, daß ich es noch einmal im sicheren Haus versuchen werde, läßt er die beiden als Köder zurück, um mich in einen neuen Hinterhalt zu locken? Oder bringt er zwei andere Leute als Lockvögel in ein anderes sicheres Haus? Und versucht, mich dann zu schnappen, wenn ich der falschen Spur folge?
Der kleine Mann flüsterte: »Du... du kommst mir ein wenig durcheinander vor.«
»Ich kann ihn nicht sehen... Ich kann nicht sehen, was er vorhat. Alle anderen, die je hinter mir her waren, konnte ich sehen. Ich
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