Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
Stephen mußte immer mit aller Kraft dagegen ankämpfen, vor Schmerz laut aufzuheulen. Die Patronen gab es in allen Farben, aber Lou bestand auf Rot. Wie Blut.
Und abends saßen sie draußen hinter dem Haus am Feuer und beobachteten, wie der Rauch in den Himmel stieg und durch das offene Fenster drang, hinter dem sie die Mutter sehen konnten, wie sie die Teller vom Abendessen mit einer Zahnbürste schrubbte. Dann trank der straffe, kleine Mann - im Alter von fünfzehn Jahren war Stephen schon genauso groß wie Lou -aus seiner frisch geöffneten Flasche Jack Daniel's und erzählte und erzählte, ob Stephen nun zuhörte oder nicht. Die Funken des Feuers stoben dabei wie orangefarbene Leuchtkäfer in den Himmel.
»Morgen will ich, daß du einen Hirsch nur mit dem Messer erlegst.«
»Nun...«
»Schaffst du das, Soldat?«
»Yessir, das schaffe ich.«
»Also, sieh her.« Er nahm einen weiteren Schluck. »Was glaubst du, wo die Halsschlagader ist?«
»Ich...«
»Hab keine Angst zuzugeben, daß du es nicht weißt. Ein guter Soldat gibt zu, wenn er etwas nicht weiß. Aber dann unternimmt er etwas, um es zu ändern.«
»Ich weiß nicht, wo die Halsschlagader ist, Sir.«
»Ich zeig's dir an deinem Hals. Genau da ist sie. Kannst du sie fühlen? Genau da. Fühlst du sie?«
»Yessir, ich fühle sie.«
»Also, du mußt eine Familie finden -eine Hirschkuh und ihre Kitze. Du schleichst dich so nah wie möglich ran. Das ist das Schwierigste, dicht genug ranzukommen. Um die Hirschkuh zu töten, mußt du ihr Kitz gefährden. Du gehst auf ihr Baby los. Du bedrohst das Kitz, dann wird die Mutter nicht weglaufen. Sie wird sich auf dich stürzen. Und dann: Ratsch -schneidest du ihr den Hals durch. Nicht seitlich, sondern in einem Winkel. Okay? Wie ein V. Fühlst du es? Gut, wunderbar. Na Junge, wir haben doch eine tolle Zeit miteinander, stimmt's?«
Dann ging Lou für gewöhnlich ins Haus und inspizierte die Teller und Schüsseln. Sie hatten auf der karierten Tischdecke immer exakt vier Karos vom Rand entfernt zu stehen. Manchmal, wenn es nur dreieinhalb Karos waren oder ein kleiner Fettfleck auf dem Rand eines Melamintellers zurückgeblieben war, konnte Stephen von drinnen die Schläge und das Wimmern hören, während er auf dem Rücken neben dem Feuer lag und den Funken auf ihrem Flug in den Himmel nachsah.
»Irgend etwas im Leben muß man wirklich gut können«, sagte der Mann dann später, wenn sich seine Frau ins Bett geschleppt hatte und er wieder mit seiner Flasche draußen saß. »Sonst macht es keinen Spaß, überhaupt am Leben zu sein.«
Kunstfertigkeit. Er sprach über Kunstfertigkeit.
Jodie unterbrach seine Gedanken. »Wie kommt's, daß du nicht bei den Marines bist? Hast du mir noch nicht erzählt.«
»Nun ja, das war dumm«, antwortete Stephen, hielt kurz inne und entschloß sich dann weiterzusprechen: »Ich hab mal was angestellt, als ich noch ein Junge war. Ist dir das nie passiert?«
»Was angestellt? Nee, nie. Ich hatte zuviel Angst. Ich wollte meine Mutter nicht beunruhigen, durch Klauen und so 'n Scheiß. Was hast du getan?«
»Etwas, das nicht besonders clever war. Da war dieser Mann, der weiter oben in unserer Straße gewohnt hat. So ein richtig brutaler Kerl. Ich hab gesehen, wie er der Frau den Arm verdreht hat. Sie war krank, und er hat ihr weh getan. Also bin ich zu ihm gegangen und hab ihm gesagt, wenn er nicht sofort aufhört, bringe ich ihn um.«
»Das hast du gesagt?«
»Genau. Das war auch etwas, das mir mein Stiefvater beigebracht hat. Du drohst niemandem einfach nur so. Entweder bist du auch bereit, ihn zu töten, oder du läßt ihn weitermachen, aber du kannst nicht einfach nur drohen. Nun, der Typ hat die Frau weiter gepiesackt, und deshalb mußte ich ihm eine Lektion erteilen. Ich hab ihm eine reingehauen. Das Ganze geriet dann außer Kontrolle. Ich griff mir einen dicken Stein und schlug damit auf ihn ein. Hab nicht nachgedacht. Ich hab ein paar Jahre wegen Totschlags bekommen. Ich war ja noch ein Junge. Fünfzehn Jahre alt. Aber das gab eine Vorstrafe. Und das reichte den Marines, um mich abzulehnen.«
»Ich dachte, ich hätte irgendwo gelesen, man könnte, selbst wenn man was auf dem Kerbholz hat, zum Militär. Du kommst nur erst in so ein Spezialcamp.«
»Na ja, ging wahrscheinlich nicht, weil es Totschlag war.«
Jodie tätschelte Stephens Schulter. »Das ist nicht fair. Überhaupt nicht fair.«
»Fand ich auch.«
»Es tut mir leid«, sagte Jodie.
Stephen, der dem Blick
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