Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
entfernt worden, und die Stufe hatte lediglich auf zwei Schuhkartons geruht. Sie waren unter ihrem Gewicht zusammengedrückt worden, die Betonplatte war heruntergefallen, und jetzt stürzte sie hinterrücks die Treppe hinunter. Die Glock flog ihr aus der Hand, und als sie den Notruf »Zehn -Dreizehn!« rufen wollte, bemerkte sie, daß das Kabel zwischen dem Kopfhörermikrofon und dem Motorola-Funkgerät abgerissen war.
Sachs landete mit einem Krachen auf dem Betonboden. Ihr Kopf schlug gegen einen Geländerstab aus Metall. Benommen rollte sie sich auf den Bauch.
»Na großartig«, rief der weiße Mann von oben.
»Wer, zum Teufel, is 'n das?« fragte der Schwarze.
Sie hob den Kopf leicht an und erhaschte einen Blick auf zwei Männer, die vom oberen Ende der Treppe auf sie herunterblickten.
»Scheiße, Dreckscheiße, was geht 'n da vor«, stammelte der Schwarze.
Der weiße Mann schnappte sich einen Baseballschläger und kam die Treppen herab.
Ich sterbe, dachte sie. Ich sterbe.
Sie hatte noch das Schnappmesser in ihrer Tasche. Es kostete sie ihre ganze Energie, den rechten Arm unter ihrem Körper hervorzuzerren. Sie rollte sich auf den Rücken, suchte das Messer in der Tasche. Aber es war zu spät. Er trat auf ihren Arm, drückte ihn auf den Boden und starrte sie an.
Oh, Mann. Rhyme, ich hab's ganz schön versiebt. Ich wünschte, wir hätten eine schönere letzte Nacht gehabt. Es tut mir leid... Es tut mir leid.
Sie hob die Hände, um den Schlag, der auf ihren Kopf niedergehen würde, abzuwehren. Sie blickte noch kurz zur Glock hinüber, aber sie lag zu weit entfernt.
Mit einer sehnigen Hand, wie die Klaue eines Vogels, zog der kleine Mann ihr Messer aus der Tasche. Er warf es weg. Dann stand er über ihr und packte den Schläger wieder mit beiden Händen.
Oh, Daddy, sprach sie zu ihrem toten Vater. Wie hab ich das nur so vermasseln können? Wieviel Regeln habe ich gebrochen? Sie erinnerte sich daran, wie er ihr erklärt hatte, daß es auf der Straße draußen nur einer Sekunde Unaufmerksamkeit bedurfte, um getötet zu werden.
»Nun erzähl mir mal, was du hier machst«, forderte der Mann sie auf und schwang dabei geistesabwesend den Schläger, als könnte er sich nicht entscheiden, welchen Körperteil er ihr zuerst brechen sollte. »Wer, zum Teufel, bist du?«
»Ihr Name ist Miss Amelia Sachs«, sagte der andere Obdachlose, der plötzlich gar nicht mehr wie ein Obdachloser klang. Er kam die Stufen herunter und stand mit einem Mal vor dem weißen Kerl und entriß ihm den Schläger. »Und wenn ich mich nicht sehr irre, mein Freund, dann ist sie hier, um deinen kleinen Arsch dingfest zu machen. Genau wie ich.« Sachs blinzelte und sah, wie sich der Penner aufrichtete und in Fred Dellray verwandelte. Er hielt dem erstaunten Mann eine mächtige Sig-Sauer Automatik unter die Nase. »Du bist ein Bulle?« stammelte er. »FBI.«
»Scheiße«, fluchte er und schloß voller Abscheu die Augen. »Das ist mal wieder mein gottverdammtes Glück.«
»Nee«, meinte Dellray lakonisch. »Glück hatte damit überhaupt nichts zu tun. Ich werde dir jetzt Handschellen anlegen, und du wirst dabei ganz ruhig bleiben. Falls nicht, wirst du wochen-oder sogar monatelang fürchterliche Schmerzen haben. Hast du das verstanden?«
»Wie hast du das gemacht, Fred?«
»Och, das war einfach«, antwortete der schlaksige FBI-Agent, als sie wieder draußen vor der verlassenen U-Bahn-Station standen. Er trug immer noch die zerrissene Kleidung eines Obdachlosen und hatte Gesicht und Hände noch nicht von dem Dreck befreit, mit dem er sich beschmiert hatte, um so auszusehen, als hätte er schon immer auf der Straße gelebt. »Als Rhyme mir sagte, daß der Freund vom Tänzer so 'n Junkie ist und Downtown in der U-Bahn haust, wußte ich schon so ungefähr, wo ich hingehen mußte. Hab 'nen Sack leere Dosen gekauft und mit allen möglichen Leuten geredet, von denen ich dachte, daß sich's lohnt. Die haben mich praktisch direkt bis in sein Wohnzimmer geführt.« Er nickte zur U-Bahn-Station herüber. Sie blickten zu dem Polizeiwagen, in dem Jodie mit Handschellen gefesselt saß und trübselig vor sich hinstarrte.
»Warum hast du uns nicht gesagt, was du vorhattest?«
Dellrays Antwort war ein Lachen, und Sachs war sofort klar, wie unsinnig die Frage gewesen war. Undercover-Polizisten verrieten praktisch nie jemandem, was sie taten -und das galt für Kollegen genauso wie für Vorgesetzte. Nick, ihr Exfreund, hatte auch undercover gearbeitet, und
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