Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
Sagen Sie mir klipp und klar: Werden Sie mich freiwillig zum Flugplatz fahren lassen, wie Sie es versprochen haben? Oder muß ich meinen Anwalt anrufen?«
Er war noch immer sprachlos.
Ein Augenblick verstrich.
Sachs schrak zusammen, als Rhyme in seinem dröhnenden Bariton rief: »Thom! Thom! Komm her.«
Sein Adlatus spähte vorsichtig um die Ecke.
»Ich habe hier alles durcheinandergebracht. Sieh nur, ich habe mein Glas umgeworfen. Und meine Haare sind ganz wirr. Würde es dir etwas ausmachen, ein wenig aufzuräumen? Bitte?«
»Treibst du Scherze mit uns, Lincoln?« fragte er mißtrauisch.
»Und Mel Cooper? Könntest du ihn bitte rufen, Lon? Er muß mich ernst genommen haben. Ich hab natürlich nur Spaß gemacht. Er ist so ein gottverdammter Wissenschaftler. Hat keinen Funken Humor. Wir brauchen ihn hier.«
Amelia Sachs wäre am liebsten geflohen. Aus dem Haus gestürzt, in ihr Auto gestiegen und mit 200 Stundenkilometern über die Straßen von New Jersey oder Nassau County gebrettert. Sie konnte es nicht ertragen, auch nur einen Moment länger mit dieser Frau im selben Zimmer zu sein.
»In Ordnung, Percey«, sagte Rhyme. »Nehmen Sie Detective Bell mit, und wir stellen sicher, daß genügend von Bos Männern bei Ihnen sind. Fahren Sie zu Ihrem Flugplatz. Tun Sie, was Sie tun müssen.«
»Danke, Lincoln.« Sie nickte und lächelte leicht.
Gerade genug, daß sich Amelia Sachs fragte, ob Percey Clays Rede nicht auch ihr gegolten hatte, um klarzustellen, wer die unangefochtene Siegerin in diesem Wettkampf war. Nun, bei einigen Sportarten war sie eben zum Verlieren prädestiniert, glaubte Sachs. Mochte sie auch Schützenkönigin, hochdekorierte Polizistin, eine teuflisch gute Fahrerin und eine ziemlich gute Kriminalistin sein, ihr Herz war nicht gestählt. Ihr Vater hatte das bei ihr gespürt; er war selbst auch ein Romantiker. »Sie sollten kugelsichere Westen für die Seele herstellen, Amie. Das sollten sie tun.«
Leben Sie wohl, Rhyme, dachte sie. Leben Sie wohl.
Und seine Antwort auf ihren schweigenden Abschied? Ein kurzer Blick und die ruppigen Worte: »Lassen Sie uns dieses Spurenmaterial ansehen, Sachs. Die Zeit läuft uns davon.«
29. Stunde von 45
Das Ziel des Kriminalisten ist die Individualisierung.
Es ist der Prozeß, ein Beweisstück zu einer einzigen Quelle zurückzuverfolgen und alle anderen Quellen auszuschließen.
Lincoln Rhyme starrte nun auf das individuellste Beweismaterial, das es gab: Blut. Blut des Tänzers. Ein Restriktions-Fragment-längen-Polymorphismus-Test, bei dem die DNA in Stücke zerteilt und analysiert wird, kann mit fast hundertprozentiger Sicherheit ausschließen, daß das Blut von einer anderen Person stammt.
Doch es gab nicht viel, was ein solcher Beweis ihm sagen konnte. CODIS, das computergestützte DNA-Informationssystem, enthielt die Daten von verurteilten Verbrechern, doch es war nur eine kleine Datenbank, die vor allem für Sexualstraftäter und einige wenige andere Gewalttäter eingerichtet worden war. Rhyme war daher nicht überrascht, als die Suche nach dem Blut des Tänzers nichts ergab.
Trotzdem bereitete es ihm eine leise Genugtuung, daß sie nun einen Teil vom Mörder selbst besaßen, aufgetupft und in ein Reagenzglas gefüllt. Für die meisten Kriminalisten waren die Täter »da draußen«; sie trafen sie selten von Angesicht zu Angesicht, sahen sie allenfalls bei der Gerichtsverhandlung. Daher war er nun zutiefst aufgewühlt davon, in gewisser Weise in der körperlichen Gegenwart des Mannes zu sein, der so vielen Menschen so viel Schmerz zugefügt hatte, ihn selbst eingeschlossen.
»Was haben Sie sonst noch gefunden?« fragte er Sachs.
Sie hatte in Brit Hales Zimmer Spurenmaterial aufgesaugt, doch Cooper und sie hatten alles durch das Vergrößerungsglas betrachtet und nichts gefunden außer Pulverrückständen, Kugelsplittern, Gips sowie Ziegelstaub von den Feuergefechten.
Sie hatte auch Patronenhülsen seiner halbautomatischen Pistole gefunden. Es war eine Beretta, Kaliber 7.62 Millimeter. Sie war vermutlich schon älter, denn sie wies eine deutliche Streuung auf. Alle Hülsen, die Sachs aufgelesen hatte, waren vor ihrem Gebrauch in Reiniger getaucht worden, um selbst die Fingerabdrücke der Angestellten der Munitionsfabrik zu entfernen. So konnte niemand den Kauf zu einer bestimmten Schicht in einer der Reming-ton-Fabriken und dann weiter zu einer bestimmten Lieferung zurückverfolgen, die an einen ganz bestimmten Ort gegangen war. Außerdem
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