Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
entfernt.
Die ältere Frau -Mutter oder Schwiegermutter -blieb vor der Ehefrau stehen. Mit gesenkten Köpfen sprachen sie miteinander.
Stephens geliebtes Model 40 war im Lieferwagen. Aber er würde das Scharfschützen-Gewehr für diesen Schuß nicht brauchen, nur die langläufige Beretta. Sie war eine wundervolle Waffe. Alt, verbeult, funktionell. Im Gegensatz zu vielen Söldnern und Profis machte Stephen seine Waffen nicht zu Kultobjekten. Wenn ein Stein der beste Gegenstand war, um ein Opfer zu töten, dann benutzte er eben einen Stein.
Er schätzte sein Ziel genau ab. Berechnete die Einfallwinkel, die Reflexionen und die mögliche Ablenkung durch das Fenster. Die alte Frau entfernte sich ein paar Schritte von der Ehefrau und stand nun direkt vor dem Fenster.
Soldat, wie sieht deine Strategie aus?
Er würde durch das Fenster schießen und die alte Frau in der Brust treffen. Sie würde zu Boden fallen. Die Ehefrau würde instinktiv nach vorne springen und sich zu ihr hinunterbeugen - und damit ein gutes Ziel abgeben. Der Freund würde in den Raum rennen, so daß auch er wunderbar zu treffen sein würde.
Und was ist mit den Bullen?
Ein gewisses Risiko. Aber als uniformierte Polizisten waren sie bestenfalls mittelprächtige Schützen, und sie hatten vermutlich noch nie ein Feuergefecht erlebt. Sie würden sicher in Panik geraten.
Der Eingangsbereich war noch immer menschenleer.
Stephen entsicherte die Waffe und stellte sich so, daß er im Dauerfeuermodus den Abzug besser kontrollieren konnte. Er drückte die Tür ein Stück weit auf, stellte den Fuß in den Spalt und suchte die Straße in beiden Richtungen ab.
Niemand.
Atmen, Soldat. Atmen, atmen, atmen...
Er packte die Beretta; der Schaft drückte fest gegen die Innen
fläche des Handschuhs. Er begann, den Druck auf den Abzug unmerklich zu erhöhen. Atmen, atmen. Er starrte die alte Frau an und vergaß alles im Universum, vergaß
den Abzug, vergaß das Zielen, vergaß seine Prämie. Er hielt einfach nur die Waffe kerzengerade in seinen geschmeidigen, lockeren Händen und wartete darauf, daß sie losging.
1. Stunde von 45Die ältere Frau wischte sich Tränen ab, die Ehefrau stand mit ver
schränkten Armen hinter ihr. Sie waren tot, sie waren -Soldat! Stephen erstarrte. Sein Finger am Abzug erschlaffte. Licht! Licht, das lautlos durch die Straße huschte. Das Blaulicht auf dem
Dach eines Streifenwagens. Dann zwei weitere Polizeiautos, dann ein ganzes Dutzend, und ein Notarztwagen. Sie kamen aus beiden Richtungen und trafen vor dem Haus der Ehefrau zusammen.
Sichere deine Waffe, Soldat. Stephen ließ die Beretta sinken und zog sich in die düstere Eingangshalle zurück. Polizisten strömten wie überlaufendes Wasser aus den Wagen. Sie schwärmten auf den Gehweg aus, blickten suchend in alle Richtungen und spähten nach oben auf die Dächer. Glas zersplitterte, als sie die Tür zum Haus der Ehefrau gewaltsam aufbrachen und hineinstürmten.
Fünf Officers des Spezialeinsatzkommandos der New Yorker Polizei in voller taktischer Ausrüstung postierten sich am Bordstein und sicherten genau die entscheidenden Stellen, die Augen wachsam, die Finger locker um die Abzugshähne ihrer Gewehre gekrümmt. Mochte schon sein, daß Streifenbeamte nichts weiter als glorifizierte Verkehrspolizisten waren, aber es gab keine besseren Soldaten als die Männer des New Yorker Einsatzkommandos. Die Ehefrau und der Freund waren verschwunden, vermutlich zu Boden geworfen worden. Ebenso die alte Dame.
Noch mehr Autos füllten die Straße und parkten auf den Gehwegen.
Stephen Kall überkam das Gefühl, daß er zusammenschrumpfte. Wie ein Wurm. Schweiß breitete sich auf seinen Handflächen aus, und er ballte sie zu Fäusten, damit die Handschuhe die Feuchtigkeit aufsaugten.
Rückzug, Soldat.
Mit einem Schraubenzieher brach er das Schloß zur Haupttür auf und huschte hinein. Schnellen Schrittes, aber ohne zu laufen, steuerte er mit gesenktem Kopf auf den Lieferanteneingang zu, der auf die Seitenstraße führte. Niemand sah ihn, als er hinausschlüpfte. Rasch erreichte er die Lexington Avenue und lief inmitten der Menschenmenge nach Süden in Richtung Tiefgarage, wo er den Lieferwagen geparkt hatte.
Blickte nach vorn.
Sir, Probleme, Sir.
Noch mehr Polizisten.
Sie hatten die Lexington Avenue etwa drei Blocks südlich von ihm abgeriegelt und waren dabei, rund um das Stadthaus einen Kontrollring zu ziehen. Sie hielten Autos an, überprüften Fußgänger, kontrollierten
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