Leuchtfeuer Der Liebe
atemlosen Ruhepausen zwischen den schmerzhaften Wehen sah Mary seine Angst. Sie suchte Trost in seinem Blick und sah nur nackte Angst. Und dazu gab es allen Grund. Sie konnte sterben und ihn mit einem Kind zurücklassen, das nicht von ihm war, das er nicht wollte. Das Kind konnte sterben, und mit ihm würde ihre Liebe sterben. Und wenn beide überlebten, wären sie seine Familie, ob er sie haben wollte oder nicht.
Es gab nur eine Lösung, die für Jesse Morgan günstig wäre: wenn sie mit dem Kind sterben würde. Dann könnte er sich wieder in seine Welt der Trauer und Einsamkeit zurückziehen.
Aber er wollte nicht, dass sie starb. Das erkannte sie an der Art, wie er ihre Hand während der beinahe unerträglichen Schmerzen drückte und Trostworte flüsterte.
Im Verlauf der schrecklichen Nacht wurden die Ruhepausen zwischen den Wehen immer kürzer, bis Mary glaubte, die anhaltenden Schmerzen müssten sie zerreißen. Sie verlor fast das Bewusstsein, versank in betäubendes Dunkel. Und immer, wenn sie einen halbwegs klaren Gedanken fassen konnte, redete sie sich ein, das Schicksal habe sie nicht ans Ende der Welt verschlagen, um sie hier sterben zu lassen, um Jesse Morgan noch mehr Leid und Kummer zu bringen. Das Schicksal wollte, dass sie ihn zum Leben zurückführte. So wie sie ihrem Kind das Leben schenkte.
Aber das reichte nicht aus. Sie schaffte es nicht. Die Hoffnung wich reiner Verzweiflung.
„Warum ... dauert ... das so lange?" keuchte sie. „Heiliger Herr Jesus Christ, warum ist meine Mutter nicht bei mir?" Und in ihrer Not begann sie zu beten, abgehackt, ohne auf die Worte zu achten. Immer wieder versank sie in Dunkelheit, die sie in schlingernden Spiralen in einen Abgrund zu zerren schien. Sie verlor jeden Bezug zur Wirklichkeit, wusste nicht mehr, wer und wo sie war. Manchmal hörte sie Jesses Stimme, die klang, als würde er aus einem tiefen Brunnen rufen. Unverständliche Worte hallten wie ein vielfaches Echo in ihr.
Sie wusste, dass er sie zurückrief, dass er sie drängte, weiterzukämpfen, nicht aufzugeben. Aber ihr fehlte die Kraft, sie war so unendlich schwach und hoffnungslos, empfand nichts mehr, nur noch diese überwältigende Müdigkeit. Sie wollte einfach loslassen, nur loslassen ...
Und dann sah sie im schwarzen Nichts etwas, zunächst einen winzigen Funken, dann ein gleißendes Licht. Und dieses Licht brachte sie an einen anderen Ort ...
Holzplanken knarrten, bevor sie mit lautem Knall splitterten. Schreiende Männerstimmen. Das Kreischen von Wasserpumpen. Stiefel scharrten über ein schief geneigtes Deck. Fässer und Kisten wurden über Bord geworfen. Eisige Fluten umgaben sie, schlugen über ihr zusammen, drückten sie unter Wasser. Ihre Lungenflügel brannten.
Sie kannte diese Dunkelheit, war schon einmal in dieses Nichts gerissen worden. Und dann erinnerte sie sich an das Baby. Neue Kraft erwuchs in ihr wie ein sprudelnder Quell, brachte ihren Kampfgeist zurück. Sie stieß sich nach oben, klammerte sich an einen Gegenstand und tauchte röchelnd auf.
Und dann sah sie das Licht. Das Leuchtfeuer. Ein Silberstreif, der über ein endloses schwarzes Nichts hinwegglitt.
Wieder sah sie das Licht, spürte neue Lebenskraft. Wie schon einmal näherte sie sich dem Licht, ohne zu wissen, was es war, wusste nur, dass sie es erreichen musste.
Wusste er davon? Wusste er, dass er ihre Rettung war? Sie spürte seine Finger, die ihre Hände hielten, sie hörte seine tiefe, heisere Stimme, konnte die Worte verstehen. „Versuch es, Mary. Bitte. Du musst es versuchen. Bitte."
Dieses Bitte hallte in ihrem Kopf nach. Jesse Morgan sagte sonst niemals „bitte". Er musste völlig verzweifelt sein.
Sie blinzelte, löste sich mühsam von der befremdlichen Lichterscheinung. Bei all ihrem Schmerz war sie neugierig auf diesen neuen Jesse, diesen Mann, der sie zärtlich hielt und „bitte" sagte, als flehe er sie an. Langsam, ganz langsam wurde sein Gesicht deutlicher. Sein schönes, leidgeprüftes Gesicht. Es war ihr unendlich lieb geworden.
Sie blickte ihm unverwandt in die Augen, konnte nicht sprechen. Wieder raste eine Woge aus Schmerz durch sie hindurch, gleichzeitig spürte sie den überwältigenden Drang, das Kind zu gebären. Sie musste es schaffen, sie musste ihr Kind zur Welt bringen.
Sie hörte ein schauerliches Röcheln, erkannte ihre eigene Stimme kaum in den Lauten, die sich zwischen ihren zusammengebissenen Zähnen hervorquälten. In ihren Ohren pochte es, sie spürte die Hitze in ihrem
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