Leuchtfeuer Der Liebe
Hände auf ihren Leib, wankte die Verandastufen in den Garten hinunter und verschwand in der Nacht.
„Mary ..."
„Komm mir nicht zu nahe."
Er eilte die Stufen hinunter. Was hatte er sich nur dabei gedacht, so mit ihr zu reden? „Mary ..."
Er hörte ihren Aufschrei, sah im fahlen Mondschein, wie sie stolperte und zu Boden sank. Mit zwei Sätzen war er bei ihr und hob sie in die Arme. Sie war ganz nass, aber nicht vom nächtlichen Tau, sondern von einer warmen Flüssigkeit.
„Was, zum Teufel ..."
„Die Fruchtblase ist geplatzt", keuchte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Das Baby kommt."
In fliegender Hast trug Jesse Mary in die Kammer, legte sie aufs Bett und eilte in die Küche zurück. Dort setzte er einen Kessel Wasser auf und schürte das Feuer im Herd. Dann überlegte er, was als Nächstes zu tun sei.
Ausgerechnet jetzt waren Palina und Magnus nicht da. Jesse war allein mit einer Frau in den Wehen, und er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er ihr helfen konnte, das Kind zur Welt zu bringen.
Verwirrt suchte er frische Handtücher und brachte einen Stapel Decken. Mary lag reglos auf dem Bett mit weit aufgerissenen Augen und gerötetem Gesicht.
„Oh, Jesse", stieß sie hervor, „ich wünschte, meine Mama wäre hier." Sie zog die Knie an, biss die Zähne aufeinander. Jesse hielt den Atem an, als sie sich vor Schmerzen krümmte.
Nach einer halben Ewigkeit, wie ihm schien, ließen die Krämpfe nach, und sie blickte flehend zu ihm auf. „Hilfst du mir, das Nachthemd anzuziehen?"
Er wusste nicht, ob er es ertrug, ihre Schmerzen mit anzusehen, unter denen sie Grangers Kind zur Welt bringen würde. Aber ihm blieb keine Wahl. Sie ließ ihm keine andere Wahl.
Er kniete neben ihr nieder und nestelte mit ungeschickten Fingern an Knöpfen und Bändern. Das Kleid ... wieso dachte er ausgerechnet jetzt an den Tag, als Emily es zum letzten Mal getragen hatte ...
„Woher soll ich wissen, was eine Dame bei einem Baseballspiel trägt, Emily?" fragte er entnervt. „ Du siehst in jedem Kleid hübsch aus."
„ Ist Baseball so ähnlich wie Tennis t "fragte sie. „ Dann könnte ich mein Tenniskleid..."
„ Es hat nicht das Geringste mit Tennis zu tun, Emily." Er lachte, entzückt über ihre Naivität. „Zieh doch das hübsche blaue Kleid an mit den Falten im Rücken."
„Aha. Das gefällt dir, weil es einen tiefen Ausschnitt hat."
Der blaue Stoff zerriss, als er Mary jetzt das Kleid auszog. Er warf es von sich und verdrängte seine lästigen Erinnerungen. Irgendwie schaffte er es, Mary das Flanellnachthemd überzustreifen und ein paar Lampen zu entzünden. Dann wollte er zur Tür gehen.
„Wo ... gehst du hin?" fragte sie mit schwacher, fremd klingender Stimme.
„In die Stadt. Ich hole Dr. MacEwan."
„Und lässt mich allein?"
„Ich sage Erik Bescheid. Das Leuchtfeuer bleibt heute Nacht ohne Aufsicht."
„Erik? Der Junge hat ein Herz aus Gold, aber das ...", sie umfing ihren dicken Bauch mit beiden Armen, „... das erschreckt ihn zu Tode. Kann er die Ärztin nicht holen?"
„In der Nacht findet er den Weg in die Stadt nicht." Jesse nahm den Mantel vom Haken hinter der Tür. „Ich beeile mich und bin bald wieder zurück."
„Reitest du in die Stadt?"
„ Ja."
„Mit dem Boot wärst du schneller."
Jesse erstarrte mitten in der Bewegung. Das alte Grauen befiel ihn. „Ich reite."
„Dann bist du mindestens zwei Stunden fort", sagte sie. Jesse, bitte geh nicht weg."
Er konnte ihren flehenden Ton nicht ertragen. „Ich muss."
„Nein. Du kannst bei mir bleiben und mir helfen, mein Kind zur Welt zu bringen."
„Ich weiß doch nicht, was ich tun soll."
„Das weiß ich auch nicht."
„Siehst du? Du brauchst Fiona ..."
„Ich brauche dich."
Er drückte sich die Mütze auf den Kopf. „Hör zu, jede Minute, die wir streiten, ist eine verlorene Minute." Er holte eine Laterne aus der Küche und wandte sich zum Gehen.
„Jesse", rief Mary mit schwacher Stimme.
Er blieb stehen, wollte sich nicht umdrehen, wollte ihr Gesicht nicht sehen, nicht die Angst in ihren umschatteten Augen. Aber er zwang sich dazu. Sie war seine Frau. Er hatte ihr ein Versprechen gegeben.
In guten wie in schlechten Tagen.
Ihr Anblick zerrte an seinem Herzen. Sie lag bleich in den Kissen, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, und sah ihn an wie ein wundes, verängstigtes Tier.
„Ja?" fragte er heiser.
„Ich habe Angst."
Er stellte die Lampe ab. „Gut, ich bleibe."
18. KAPITEL
J esse hatte Angst. In den
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