Leuchtfeuer Der Liebe
in die Teakholzschatulle, ohne einen Blick darauf zu werfen, um sich nicht zu erinnern, doch jedes einzelne Andenken drängte ihm leidvolle Erinnerungen auf.
„Das hätten Sie nicht tun dürfen." Seine Stimme klang gefährlich leise. „Es geht Sie nichts an. Sie hatten kein Recht..."
„Die Schatulle ist aus dem Schrank gefallen. Ich habe sie nicht absichtlich geöffnet", verteidigte sie sich, ohne sich von seinem Zorn einschüchtern zu lassen. „Sagen Sie es mir."
Er griff nach dem Lederrahmen. Mary war schneller als er. Ihre Hände berührten sich einen flüchtigen Augenblick. Sie entzog ihm die Fotografien und hielt ihm die Zeugnisse seiner Vergangenheit vors Gesicht. „Ich will es wissen, Jesse."
„Zum Teufel, warum?"
„Weil mir etwas daran liegt."
„Lassen Sie ..."
„Es ist zu spät, Jesse. Mir liegt etwas an Ihnen, und daran können Sie mich nicht hindern."
Er dachte an letzte Nacht, als sie ihn mit ihrem Eigensinn überfahren hatte wie eine Lokomotive. Es war einfacher, ihr nachzugeben, als gegen sie zu kämpfen. Sie aufzuhalten glich dem Versuch, einen Fluss am Fließen hindern zu wollen. Wenn er einen Damm bauen würde, würde sie auch den niederreißen.
Sie gehörte nicht hierher. Nicht in dieses Haus. Nicht in sein Leben. Sie hatte kein Recht, einen Blick in seine Vergangenheit zu werfen. Vielleicht konnte er sie davon überzeugen, wenn er ihr alles erzählte.
Er zwang sich, die Fotografie im Lederrahmen anzusehen. Und plötzlich war er zurückversetzt in der Zeit, zurück an einen verlorenen Ort, in eine verlorene Situation. „Ich war zwanzig, als das Bild gemacht wurde", sagte er.
„Sie waren so hübsch. Schön wie ein Märchenprinz." Sie stellte den Rahmen auf den Fußboden. „Gottlob sehen Sie nicht mehr so aus."
„Was?"
„Sie sahen aus wie ein Bild in einem von Malcolms Büchern. Jedes Härchen sorgsam frisiert, kein Fältchen im Anzug. Jetzt sehen Sie menschlich aus. Ihr Gesicht war damals leer, ohne Inhalt. Heute gefallen Sie mir besser."
Er zwang sich, das zweite Bild im Faltrahmen anzusehen. Wenn die Natur je eine Gestalt, ein Antlitz ohne Makel geformt hatte, dann dieses. Die Frau hielt den Blick ihrer großen Augen ernsthaft auf den Betrachter gerichtet, ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen. Unter dem Brautschleier lugten Ringellöckchen hervor. Er erinnerte sich, bei ihrem Anblick von Schwindel erfasst gewesen zu sein, benommen vor Liebe und atemberaubendem Stolz, dass sie ihm gehörte. Für immer.
Für immer sollte weniger als zwei Jahre dauern.
„Sprechen Sie weiter", bat Mary leise.
„Ihr Name war Emily Leighton. Wir haben vor vierzehn Jahren geheiratet." Er zwang sich, sachlich zu sprechen wie von einer Fremden. In gewisser Weise stimmte das ja auch. Heute war er ein völlig anderer als der selbstbewusste, blutjunge Bräutigam auf der vergilbten Fotografie.
„Und das hier", Mary wies auf die Schatulle, „gehörte einst Emily."
Er nahm den Rahmen hoch, klappte ihn zu und schloss den winzigen Haken. Sein Bild und Emilys Bild berührten einander in der Dunkelheit. Für immer. Auch ohne die Bilder anzusehen, erinnerte er sich seines Glücks an jenem Tag, an die glücklichen Monate danach. Sie waren das Traumpaar von Portland gewesen. Die Tochter der Leighton-Sägewerke hatte den steinreichen Erben der Morgan-Reederei geheiratet. Eine Märchenhochzeit, wie sie Portland noch nie erlebt hatte. Geschäftsfreunde und Verwandte waren aus San Francisco und Seattle angereist, um dem Brautpaar Glück zu wünschen.
Und ihr Leben war wie ein glücklicher Traum gewesen - zu glücklich. So glücklich, dass Jesse heute glaubte, er hätte es besser wissen müssen. Ein solches Glück konnte nicht von Dauer sein. Aber als zwanzigjähriger Jüngling hatte er noch nichts von der Grausamkeit des Lebens erfahren, hatte nichts von den Qualen der Liebe geahnt und nicht gewusst, dass Glück eine flüchtige Illusion war.
„Wie lange waren Sie verheiratet?" fragte eine Stimme.
Mary. Er hatte vergessen, dass sie auf dem Fußboden kauerte, so verloren war er in seinen Erinnerungen. „Beinahe zwei Jahre", antwortete er. „Und dann ..." Er blickte aus dem Dachfenster, und wieder einmal holten ihn seine dunklen Erinnerungen ein.
Es war ein sonniger Tag gewesen im Hafen von Astoria. Trügerisch sonnig. Damals hatte er noch nichts von den Tücken des Wetters an der Pazifikküste gewusst. Der azurblaue Himmel und das spiegelglatte Meer hatten ihn glauben lassen, es herrschten
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