Leuchtfeuer Der Liebe
du hättest nicht gedacht, dass der Gaul durchgeht."
„Ich hatte Angst, Mister. Große Angst." Der Junge legte den Arm enger um den Nacken seines Retters.
Jesse überkam eine seltsame Rührung, als der Kleine sich so vertrauensvoll, so unschuldig an ihn schmiegte.
Das Kind war in den Einspänner seines Vaters geklettert und hatte eine halsbrecherische Spritztour gemacht. Und Jesse wurde wieder einmal damit konfrontiert, wie flüchtig das Leben war. Glückseligkeit konnte sich von einer Sekunde zur nächsten in namenloses Leid verwandeln.
In einem Anflug spontaner Gefühlsaufwallung hob Jesse das Kind höher und drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel. Die Berührung seiner Lippen mit dem seidigen Kinderhaar versetzte ihm einen befremdlichen Stich in der Brust.
Es blieb ihm keine Zeit, darüber nachzudenken. Mrs. Hapgood rannte mit gerafften Röcken die Straße entlang, der Pastor mit flatternden Rockschößen hinter ihr her. „Mein Kind", kreischte sie. „Mein Junge!"
Der Kleine begann sich in Jesses Armen zu winden und war nicht mehr zu halten. „Mama! Papa!" jauchzte er vor Glück, und Jesse stellte den zappelnden Jungen ab. Die Mutter hob ihn hoch, drückte ihn weinend an sich und bedeckte sein kleines Gesicht mit Küssen. Der Vater umarmte Frau und Kind, eine Träne lief ihm über die bleiche Wange. Er drehte sich zu Jesse um, seine Lippen formten ein stummes „Dankeschön." Jesse nickte und wandte sich zum Gehen, um nach Mary Ausschau zu halten.
Er musste nicht lange suchen. Und er erinnerte sich an ihren Streit.
Elliot und Sarah Webber. Zum Teufel mit den beiden. Marys Gesicht, als Sarah von „schmutzigen Iren" gesprochen hatte, hatte ihm ihre tiefe Kränkung gezeigt. Sie hatte solche abfälligen Bemerkungen nicht zum ersten Mal gehört, und Jesse wünschte, sie müsste solche Schmähungen nie wieder hören.
Er wollte sie beschützen. Wenn das nur so einfach wäre wie bei dem kleinen Jungen in der gefährlich schwankenden Kutsche hinter dem durchgehenden Pferd. Er hatte sich dem Gaul in den Weg gestellt und ihn aufgehalten, und schon war der Spuk vorbei gewesen.
Mary hatte sich nicht von der Stelle am Zaun gerührt und blickte starr aufs Meer hinaus, ihr gewölbter Leib im Profil das sichtbare Zeichen dessen, was zwischen ihnen stand.
Das Kind. Die stumme Bedrohung. Der Hohn.
Jesse dachte an den Jungen, den er seinen zu Tode erschrockenen Eltern gebracht hatte. Dieses kostbare kleine Leben. Für Marys Baby könnte er niemals zärtliche Empfindungen haben, würde es gar nicht erst versuchen. Der bloße Gedanke daran ließ ihn innerlich erschauern. Er konnte sich nicht einmal in der Rolle des Vaters seines eigenen Kindes vorstellen, geschweige denn eines Bastards, den ein Fremder gezeugt hatte.
Mary aber ist keine Fremde, hielt ihm die Stimme seines Gewissens entgegen.
Innerlich aufgewühlt trat er neben sie. Nie waren ihre Augen so groß, ihr Blick so sanft, so traurig gewesen. Wo war ihr glückliches Strahlen geblieben? Wo ihre Heiterkeit? Mary konnte doch sonst jeder Situation eine humorvolle Seite abgewinnen.
„Da sind Sie ja wieder, der Held des Tages", sagte sie leise. „Welch ein Glück für die Hapgoods, dass Sie heute hier sind, Jesse Morgan. Ja, jeder kann sich glücklich schätzen, Sie in seiner Nähe zu wissen."
Die beißende Ironie ihrer Worte schmerzte ihn. Die Begegnung mit den Webbers hatte den Tag überschattet wie eine dunkle Gewitterwolke. Er spürte, wie sie sich tapfer bemühte, Haltung zu bewahren, als sie neben ihm durch die Menge schlenderte, aber heftig zusammenzuckte, als der Kanonenschuss den Start der Segelregatta ankündigte.
Ihre Stimmung hob sich ein wenig, als ein Austernsegler mit einer in Oysterville ansässigen finnischen Mannschaft das Rennen gewann und als erstes Boot die Boje umrundete, weit vor den schnittigen Yachten der reichen Sommerfrischler aus Portland und Astoria. Als die Sonne tief hinter der Halbinsel stand und den Sommerhimmel vergoldete, wurde Jesse unvermutet klar, dass ihm die Freude eines anderen Menschen seit einer Ewigkeit nichts mehr bedeutet hatte, vielleicht nie so viel bedeutet hatte wie in diesem Augenblick.
Er hatte Emily geliebt, aber er hatte sie mit der Sorglosigkeit und Leichtfertigkeit eines jungen, verwöhnten Mannes geliebt. Nun, da er älter war, wusste er, dass jeder kommende Tag nur ein Versprechen und keineswegs eine Garantie war.
„Woran denken Sie?" fragte Mary.
Er räusperte sich. „An Sie. Und ich hoffe, Sie
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