Leuchtfeuer Der Liebe
verdutzten Witwe, die mit offenem Mund herüberstarrte, durch den Kopf ging. Sie hatte eine schlaflose Nacht hinter sich, litt furchtbare Ängste und war Jesses Gefühlskälte leid. Sie wollte ihm gehörig die Meinung sagen, und niemand würde sie daran hindern.
„Ich habe Ihnen gestanden, wovor ich Angst habe", schimpfte sie und eilte im Laufschritt neben ihm her. „Und Sie haben nichts zu sagen. Kein Wort. Ehrlich, manchmal frage ich mich, ob Sie ein Herz aus Stein haben. Ihre Gleichgültigkeit ist erschreckend. Sie haben kein einziges Trostwort für mich übrig und weigern sich, mir zu helfen."
Er überquerte den Rasen vor dem Gerichtsgebäude. In ihrem Zorn achtete sie nicht darauf.
„Es ist allein Ihre Schuld. Sie haben mich fotografiert. Sie haben das Bild an die Zeitung geschickt."
Mittlerweile hatte er das Portal aufgerissen. Seine Schritte hallten auf dem Steinboden der hohen, dämmrigen Eingangshalle.
„Haben Sie gar nichts zu sagen?" schrie sie wütend, und das Echo ihrer Worte brach sich an den hohen Wänden. „Sagen Sie doch endlich etwas oder ..."
Sie stockte mitten im Satz. Jesse riss eine Tür auf und betrat einen großen Raum. An einem riesigen Schreibtisch, halb verborgen hinter Stapeln von Akten, saß ein kleiner Mann, der stirnrunzelnd den Kopf hob und dann höflich lächelte.
„Ich bin Jesse Morgan", grüßte Jesse kurz angebunden. „Der Leuchtturmwärter von Cape Disappointment."
„Ja, ich kenne Sie. Was kann ich für Sie tun?"
„Das ist Mary Dare." Jesse wies auf seine Begleiterin. „Richter Hiram Palmer."
Sie blinzelte verwirrt, dann machte sie verlegen einen Knicks.
„Wie hoch sind die Gebühren für eine Eheschließung?" fragte Jesse.
„Achtzig Cents für das Antragsformular, aber ..."
„Gut." Jesse kramte in seiner Hosentasche, warf zwei Silberdollar auf den Tisch und legte eine goldene Zwanzig-Dollar- Münze dazu. „Das ist dafür, dass Sie es sofort tun."
„Jetzt sofort?" fragte der Richter.
„Jetzt sofort."
„ Was?" Mary glaubte, ihr Verstand setze aus.
Der Richter erhob sich, eilte zu einer Seitentür und sprach mit jemand im Nebenraum. Ein Beamter erschien, nickte einen Gruß, holte ein Formular aus einem Schrank und begann, es in geschwungenen Schriftzügen auszufüllen.
Mary nahm die Vorgänge verschwommen wie hinter einem Schleier wahr, das Blut rauschte ihr in den Ohren. Sie registrierte, wie Jesse ihr einen Federhalter in die Hand drückte. Ihr war, als stehe sie neben sich, als sie ihren Namenszug an die Stelle setzte, auf die er seinen Finger hielt, und danach, als Jesse unterschrieb.
Sie bemühte sich angestrengt, klar zu denken, und klammerte sich an seinem Arm fest. „Was, um Himmels willen, tun Sie da?"
„Ich heirate Sie."
„Warum?"
„Das wollen Sie doch? Sie wollen, dass Ihr Kind einen gesetzlichen Vater bekommt, damit es Ihnen nicht weggenommen werden kann."
Fassungslos blickte sie ihn an, diesen harten, kämpferischen Mann, der nur seine Ruhe haben wollte. Dankbarkeit und Entsetzen stiegen gleichermaßen in ihr hoch. „Ja, aber ..."
„Dann beeilen Sie sich, und heiraten Sie mich."
Im Morgengrauen des nächsten Tages stand Jesse auf dem Leuchtturm. Er war nun beinahe vierundzwanzig Stunden verheiratet und fühlte nichts.
Es war ein Tag wie jeder andere einförmige Tag auf der Station. Er stand auf der Plattform und blickte auf die See hinaus, studierte prüfend den Himmel, um das Wetter vorherzusagen. Er blickte in die eisengraue Dünung. Sein Leben lang würde er gegen die feindlichen Elemente kämpfen und sie niemals besiegen.
Nach seinem spontanen Entschluss, die Frau zu heiraten, die er aus dem Meer gezogen hatte, hatte ihn ein heftiger Kopfschmerz befallen, der den ganzen Heimweg über nicht weichen wollte.
Während der langen Rückfahrt hatte sich keine Gelegenheit ergeben, darüber zu sprechen, da Abner Cobb und seine Gattin sowie Dr. Fiona MacEwan ihn gebeten hatten, sie mitzunehmen. Mrs. Cobb und Mary hatten wie zwei alte Freundinnen geplaudert, auch Fiona hatte viel zu sagen gehabt. Zu Marys Entzücken hatte sie jedes einzelne Wort der mit reichen Ornamentverzierungen umrandeten Heiratsurkunde immer wieder vorgelesen. Abner hatte vor sich hingedöst, und Jesse hatte schweigend kutschiert.
Zu Hause angekommen, hatte er sich so lange im Stall aufgehalten, um die Pferde zu versorgen, bis es Zeit für ihn wurde, die Wache im Leuchtturm anzutreten. Und in den stillen Nachtstunden hatte er an Mary gedacht.
Mary.
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