Leute, das Leben ist wild
unerbittlich die Strudel reißen und sie in die Tiefe saugen wollen.
Zögernd folge ich Arthur. Als ich ganz dicht dran bin, hocke ich mich hin und blase langsam die Luft über meine Knie aus. Arthur wird wissen, was er tut. Für einen Moment vergesse ich, wieder einzuatmen, bis es in meinem Kopf merkwürdig anfängt zu kribbeln. Ich habe Arthur im Blick, der sich langsam und beinahe geräuschlos Alina nähert. Vielleicht wäre es doch besser, sie zu rufen, damit sie weiß, dass wir da sind, damit sie sich nicht erschreckt, wenn Arthur sie plötzlich an den Schultern packt. Oder aber es könnte sein, dass sie dann erst recht ins Wasser springt. Diese Situation ist knifflig und es gibt kein Richtig und kein Falsch, hier muss intuitiv entschieden werden. Ich vertraue Arthur, dass er alles richtig macht. Seine Wärme strahlt bis zu mir aus, und ich weiß, dass ich Glück habe, ihn in meinem Leben zu wissen. Und doch erscheint er mir mit all seiner Klarheit und Sicherheit oft zu groß, so, als könne er mich verschlucken. Manchmal ertrage ich es dann kaum neben ihm. Und doch flüstere ich: »Arthur, ich liebe dich.«
Tränen steigen mir in die Augen - und dieser Moment, in der niedersinkenden Dämmerung, dieser Moment, allein mit Arthur und Alina, meinen besten Freunden, die mich im Innersten kennen, hier in der chaotischen Natur, die ihre eigenen Gesetze, ihr eigenes Muster, ihre eigene Anordnung hat, befinde ich mich im Angesicht des Todes. Ich berühre den Erdboden. Meine Fingerspitzen tasten über die heruntergefallenen, knisternden Blätter. So, als würde ich Verstecken spielen. Ich spüre mein erneutes Einatmen in der Brust und ich weiß, dass das hier gleich für immer vergangen sein wird. So, wie die Kindheit für immer vergangen und nicht rückholbar ist.
Es wird dunkler. Alina und Arthur sind nur noch schwarze, diffuse Silhouetten vor dem bläulichen, endlosen Nachthimmel. Bei uns zu Hause treffen sicher gerade immer neue Gäste ein, bereit, sich hemmungslos zu betrinken und mit irgendwem in der Zimmerecke zu knutschen. Zu diesem Zweck veranstaltet man schließlich Partys. Johannes wird Musik auflegen, und meine Mutter wird mit Samuel danebenstehen und ihr Glück nicht fassen können, dass da plötzlich und aus dem Nichts ein junger Mann mit muskulösem Oberkörper aufgetaucht ist und sie so fest in die Arme nimmt, wie sie es sich zwanzig Jahre lang verzweifelt gewünscht hat. Alice und Susanna werden sich noch immer darüber aufregen, was für Unverschämtheiten ihnen diese Sarah an den Kopf geworfen hat. Und nebenbei mampfen sie das Büffet leer. Albert wird mit zitternden Händen einen Joint rauchen und sich gemeinsam mit Sarah fragen, ob sie sich nicht generell etwas mehr unter Kontrolle haben sollten, da es offenbar auch noch andere Menschen gibt, die ihre ganz persönlichen Probleme haben, von denen die Außenwelt oft gar nichts ahnt.
Oder aber Mama dreht gerade voll durch vor Sorge, alle Anwesenden hocken in meinem Zimmer schweigend auf dem Teppichboden und wissen nicht, was sie denken oder tun sollen. Sie wissen ja nicht einmal, wo Arthur und ich so plötzlich hingerannt sind. Wir haben kein großes Drama gemacht, sondern sind einfach losgelaufen; mein Handy liegt noch oben im Badezimmer neben dem Zahnputzbecher. Erreichen kann uns also auch keiner. Ich bin sicher: Die Party wird ohne uns laufen. Ahnt ja niemand, dass sich Alina umbringen will. Oder? Ständig erzählen Jugendliche, dass sie sich umbringen wollen. Nimmt man
das ernst? Hab ich auch schon mal gesagt und gedacht. Ich hab mir herrlich ausgemalt, wie das sein würde, wenn alle am Ende merken, wie langweilig das Leben ohne ihre Lelle ist. Bestimmt spürt meine Mutter intuitiv, dass was nicht stimmt. Mama hat diese Gabe. Und was habe ich vorhin empfunden, als Johannes zur Tür hereinkam? War da so etwas wie Liebe? Ist jetzt gerade so etwas wie Liebe in mir? Oder Angst? Kalte, grauenhafte Angst.
Arthur wankt durchs Dunkle, vor ihm wankt Alina mit ihren hochgestellten Haaren unter den Trauerweiden hindurch. So, als hätte sie keine Zweifel an dem, was sie da vorhat. Was auch immer es ist. Und ich lege meine Arme um meine angewinkelten Knie und beiße mir auf die Lippen, die Augen weit aufgerissen. Bitte, lieber Gott, bitte, mach, dass etwas passiert, bete ich. In der Hoffnung, dass ab diesem Augenblick mein Leben geregelter, gleichmäßiger verlaufen wird. Das nahende Unglück soll all meine eigenen Unsicherheiten überdecken. Meine
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