Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Leute, ich fuehle mich leicht

Titel: Leute, ich fuehle mich leicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa Hennig von Lange
Vom Netzwerk:
Neulich, als sie ein Klaviervorspiel in der Schule hatte, hat Mama mich auf Knien angefleht, ihr mein violettes Top auszuleihen, das ich mir gerade von meinem Ersparten bei Miss Sixty gekauft hatte. Bis heute habe ich es nicht wiederbekommen, und wie es aussieht, werde ich es auch nie wiederbekommen. Wenn es ganz schlecht läuft, vertickt es Rita sogar an irgendwelche Nachbarn. Das hat sie früher schon einmal gebracht. Als ich ungefähr fünf Jahre alt war, hat sie sich von Mama meine Blockflöte ausgeliehen, mit dem Vorwand, dass Alice’ einen »Haarriss« hätte und sie meine Flöte ausnahmsweise mal zum Unterricht mitnehmen würde. Als wir die Flöte später wiederhaben wollten, hatte Rita sie tatsächlich an ihre Nachbarn für das Enkelkind verhökert und die Moneten selbst eingestrichen. Ich wusste es gleich, dass es ein Fehler sein würde, Alice das Top auszuleihen, aber Mama meinte: »Tu mir den Gefallen. Bitte!« Das habe ich jetzt davon. Ich krieche also aus meinem Schutzraum und stelle mich vor Alice auf den Weg, bereit, die ersten Kratzer abzuwehren.
    Ich sage: »Alice, du wirst nie begreifen, worum es im Leben geht.«
    Und gerade als sie ausholen und mir wütend ihre dreckigen Fingernägel ins Fleisch hauen will, kommen die drei Grazien aus der Haustür gestolpert. Cotsch rast mit verheultem Gesicht und bauschigem Brautkleid an Alice und mir vorbei in Richtung Ewigkeit.
    »Ich hasse euch! Ich bringe mich um!«
    Die beiden verliebten Mütter lamentieren herum: »Kinder, seid doch vernünftig!«
    Damit dürften ja wohl Alice und Cotsch gemeint sein. Ich verschränke die Arme vor der Brust und sage: »Macht den Scheiß unter euch aus. Dann ist meine Mutter eben lesbisch. Ist doch super! Hauptsache, ich kriege mein Top wieder.«
    Dabei schweift mein Blick von Alice zu Rita und zurück. Mama will ich gar nicht erst angucken.
    Rita tut so, als ob sie nicht kapiert, worauf ich hinauswill. Darum sage ich: »Am besten, ihr gebt Mama das Top gleich mit.«
    Um mein Schlusswort nicht zu verwässern, drehe ich mich um und laufe schnell um die nächsten Bäume, Richtung U-Bahn-Station. Ich glaube, das war ein astreiner Abgang. Auch wenn er für Mama verstörend gewesen sein dürfte. Sie wird sich fragen: Was genau hat Lelle gesehen, was sie nicht sehen sollte? Und wie wirkt sich das Gesehene auf ihre ohnehin schon labile Psyche aus? Wird sie sich womöglich umbringen wollen? Fragen über Fragen, die Mama leider mit sich ausmachen muss. Sie kann ja schwer zu Papa gehen und sagen: »Berni, ich habe Mist gebaut.« Der würde sie nur blöde angucken und weiter seine eingereichten Quittungen sortieren. Und Mama würde wieder merken, dass sie echt allein auf der Welt ist. Meine arme Mama. Nicht mal von Rita kann sie jetzt noch Unterstützung erwarten. Von nun an wird die damit zu tun haben, ihre Wundertochter Alice wieder in Gleichklang zu bringen. Nicht dass Alice durch den eben erlittenen Schock, dass ihre Mutter sich zur gleichgeschlechtlichen Liebe hingezogen fühlt, das virtuose Klavierspiel verlernt. Und zum guten Schluss gibt es da ja auch noch Cotsch, um die sich gekümmert werden müsste. So wie die gerade drauf war, geht sie garantiert ins Wasser. Ganz pathetisch schmeißt sie sich im Brautkleid den Fischen zum Fraß vor. Hinterm Kloster. Dort, wo sich der Fluss in eine reißende Kurve legt. Genau wie ihr literarisches Vorbild Virginia Woolf. Bloß nicht. Ich habe ihr nämlich schon lange nicht mehr gesagt, dass ich sie sehr mag. Sie ist eben ein Freigeist. Genau wie ich. Leute, langsam, aber sicher komme ich auf den Trichter, dass das Leben kein Urlaub ist. Hier geht es um knallharte Schicksale, die ihresgleichen suchen.

9
    Z um Glück fährt meine U-Bahn sofort ab, als ich eingestiegen bin und mich auf einen Platz am Fenster gequetscht habe. Ich lehne meine Stirn gegen die kühle Sicherheitsglasscheibe und gucke raus, während die Bahn mit mir um die Rabatten Richtung Stadt fährt. Draußen auf der Wiese stehen zwischen den akkurat angelegten Blumeninselchen komische Tulpen aus Stahl. Ich weiß nicht, was das soll. Die ranken sich zehn Meter hoch in den Himmel und der ist grenzenlos. Keine Wolke ist zu sehen. Nur blauer, endloser, lichter Raum. Mama und Rita im Garten. Ich habe sie genau vor Augen, wie sie sich gegenseitig die Oberarme tätscheln. Ich will die beiden sofort aus meinem Hirn kriegen - das wird nur nicht klappen. Traumatische Erlebnisse brennen sich einem nun einmal tief ins Gedächtnis ein, da

Weitere Kostenlose Bücher