Leute, ich fuehle mich leicht
mein Fahrrad aus dem Schuppen. Anschließend ziehe ich die Gartentür hinter mir zu und der sattblaue Himmel legt sich über mich. Ich fahre los, durch die milde Luft. Zur Mathenachhilfe. Die Straße hinunter, in den Wald hinein. Den kleinen Trampelpfad hinunter, die Äste hängen tief. Die Sonne scheint und im nächsten Moment sitze ich schon oben in der sehr aufgeheizten Dachkammer von meinem hundert Jahre alten Mathenachhilfelehrer Herrn Henkel. Er hat sehr dicke Handgelenke. Mit seinen kräftigen Händen schreibt er winzige Bleistiftzahlen auf einen Karozettel und mir klappen immer wieder die Augendeckel zu. Ich verstehe gar nicht, was er mir da zu erklären versucht. Und nachher, am Ende der Stunde, werde ich ihm wieder zehn Euro geben und sagen: »Danke. Ja, alles verstanden.« Ich meine, das hier ist so was von überflüssig. Theoretisch könnte ich direkt von meinem Stuhl fallen und ein bisschen rumwimmern. Wenn er dann fragt: »Geht es dir nicht gut?«, sage ich: »Sie sollten wissen, dass ich eine psychische Störung habe. Deswegen bin ich ein besonderer Mensch und benötige kein Mathe mehr.«
Ich gucke auf die altersfleckige Hand von meinem Nachhilfelehrer und dann zum Bücherregal rechts neben mir, lese, was auf den Buchrücken steht. Dann glotze ich wieder aus dem kleinen Giebelfenster. Dahinter rauschen die Baumkronen, und es ist so, dass ich keine Sekunde länger mehr hier sitzen kann. Ich mag nicht, wenn mein Leben durch Termine wie diesen hier bestimmt oder behindert wird. Wie gesagt: Ich gehe auch nicht gerne in die Schule. Ich meine, ich lebe nur einmal. Ich muss meine Erfahrungen machen. Ich will jetzt zu Johannes und mit ihm in seinem Zimmer rumsitzen, Musik hören und philosophische Gedanken über den Sinn des Lebens hegen. Ich fühle mich gerade innerlich total beengt, irgendwie depressiv, wie Mama sagen würde. Das Dumme ist: Ich kann nicht einfach aufstehen und gehen. Das wäre unhöflich. Und wenn ich eins in meinem kurzen Leben gelernt habe, dann, dass ich nie unhöflich sein soll. Also kippe ich vom Stuhl.
Herr Henkel springt sofort von seinem Platz und ruft aufgeregt nach seiner Frau: »Helene!«
Die hat graue Locken. Ich liege da, wie ich immer daliege, wenn ich ohnmächtig bin. Schön ist das. Ich will hier ewig auf dem gelben Siebzigerjahre-Teppich liegen und nur den Stimmen lauschen. Herr Henkel kniet sich neben mich und tätschelt mir ein bisschen auf meiner Wange herum. Im Übrigen weiß ich nicht, wie es gleich weitergehen soll. Darüber hätte ich vielleicht eher nachdenken sollen, bevor ich mich vom Stuhl schmeiße. Ich atme ganz ruhig, weil ich glaube, dass man das tut, wenn man ohnmächtig ist.
Herr Henkel ruft wieder: »Helene!«
Und dann höre ich, wie die Tür über den hohen Teppich geschoben wird und eine warme alte Stimme fragt: »Was denn, Manfred?«
»Elisabeth ist eben einfach vom Stuhl gekippt.«
»Das dürre Mädchen.«
»Was machen wir jetzt? Sie will gar nicht wieder aufwachen.«
»Lass mich mal.«
Ich merke, wie sich Herr Henkel neben mir mühsam an der Tischkante hochzieht und sich nach hinten verdrückt. Dann fühle ich runde Knie in meiner Seite und eine Hand, die sich weich auf meine Stirn legt. Dann streicht mir die Hand die Haare zurück, und unter mir wölbt sich der Teppichboden, als würde mein Körper die halbe Weltkugel umspannen. Es ist kein unangenehmes Gefühl. Über mein Gesicht huschen die Lichtreflexe der Sonne, und dann höre ich, wie Frau Henkel sagt: »Wir rufen besser einen Krankenwagen.«
Und weil ich nicht einfach die Augen öffnen und sagen kann: »War alles nur ein Scherz!«, bleibe ich stumm und warte, was als Nächstes passiert. Irgendwie bin ich richtig gut gelaunt, weil jetzt Bewegung in mein Leben kommt, ohne dass ich selbst etwas dazu tun muss. Ich werde bewegt. Frau Henkel steht wieder auf und verschwindet in den Flur. Jedenfalls höre ich aus dieser Richtung ihre gedämpfte Stimme, wie sie jemandem am Telefon erklärt, dass ein Notfall vorliegt und sie einen Krankenwagen braucht. Dann vernehme ich, wie sie Herrn Henkel, der jetzt wieder neben mir kniet und meinen Puls fühlt, mitteilt, dass sie meine Mutter auch gleich anrufen will.
Er murmelt: »Mensch, Mensch, Mensch. Die jungen Leute.«
Seine Hand zittert an meiner, und ich fühle seinen alten, warmen Atem über meine nackten Arme streichen, und wieder fliegen Lichtreflexe von der Birke, die draußen im Garten steht, über meine geschlossenen Lider.
Von weit her
Weitere Kostenlose Bücher