Leute, mein Herz glueht
restlichen Tetrapak-Wein rein. Leider habe ich mir in der Anspannung auch schnell ein Glas vom Buffet gekrallt - entgegen all meiner guten Vorsätze. Doch im Laufe des höllischen Rumgeklimpers bin ich zunehmend nervöser geworden, weil ich die ganze Zeit überlegt habe, wie ich Arthur am geschicktesten beibringe, dass ich gleich noch mal verschwinden muss. Und ich lüge ja so ungern.
Aber dann habe ich eine ebenso schmerzhafte wie existenzielle Entscheidung getroffen:
Leute, ich werde mich von Johannes lösen.
Also: trennen. Und Arthur braucht nichts von ihm zu wissen. Johannes war eine intensive Episode, die nun für immer vorbei ist. Es ist gut, dass ich diese intensive Episode hatte, weil ich sie sonst womöglich wann anders gehabt hätte - also: wenn ich bereits Mutter von fünf Kindern bin oder so. Trotzdem finde ich, dass Arthur sich über Johannes und meine Beziehung nicht das Hirn beziehungsweise das Herz zermartern muss - ich bin es, die mit der unverzeihlichen Schuld bis zum bitteren Ende leben muss. Ist jedenfalls meine Meinung. Darum habe ich mir ausnahmsweise selbst die Erlaubnis erteilt, ein Glas Rotwein zu schlürfen und Arthur anzulügen. Sobald ich mir den billigen Fusel hinter die Binde gekippt habe, werde ich ihm verklickern, dass ich noch mal kurz zu Alina rübermuss, weil sie unter starkem Liebeskummer leidet. Stattdessen werde ich mich aber natürlich mit Johannes treffen und die Angelegenheit von Angesicht zu Angesicht klären. Das wird richtig peinlich. In jedem Fall werde ich ihm anbieten, dass wir Freunde bleiben oder so.
Morgen werde ich dann mit Sicherheit einen ordentlichen Kater haben, aber auch Ruhe und Klarheit. Darauf freue ich mich total. Vielleicht sollte ich Johannes einfach vergessen. Nie wieder an ihn denken, was nicht ganz leicht sein dürfte, da ich ja diese Mikrobe in der Leistengegend habe. Daraus lernen wir, liebe Leute, dass nichts für die Ewigkeit ist und man mit lebenslangen Tätowierungen oder Ritzgeschichten vorsichtig sein sollte. Wobei ich jetzt schon wieder fast so weit wäre, mir Arthurs Namen in den Oberarm stechen zu lassen. Tja, es gibt Momente, in denen kommt einem alles richtig vor, und dann ist der Moment auch schon wieder vorbei, und man stellt fest: Das Ganze war eine einzige Scheißidee. Leute! Das ist meine Definition von Leben. Ohne euch deprimieren zu wollen, aber nichts ist so sicher wie der Tod.
Okay. Jetzt habe ich das Glas geleert und knalle es zurück auf das Buffet. Ich muss sagen: Ganz nüchtern bin ich nicht mehr. Ich merke das daran, dass ich rüber zu Herrn Melms schiele und ihm freundlich zugrinse. Von wegen: »Glauben Sie mir: Ich weiß, was Sie mit Ihrer Borderline-gestörten-Tochter durchmachen.« Als hätte er meine telepathische Nachricht empfangen, hebt er zustimmend das Glas in meine Richtung und nickt fischköpfig vor sich hin. In jedem Fall wird es Zeit für mich, aufzubrechen und die Sache mit Johannes hinter mich zu bringen. Vorher nehme ich mir aber noch ein volles Glas vom Buffet, schütte es mir rein und stelle es geleert zwischen die Blumenkübel auf den weißen Teppich. Hoppala, jetzt schwanke ich aber schon richtig. Gut fühlt sich das an. Habe ich schon gesagt, dass ich eher selten bis nie Alkohol trinke? Das Zeug zündet voll rein. Mannomann. Ich nicke freundlich in die Runde und hebe die Hand zum Abschiedsgruß. Dazu rufe ich ein bisschen zu laut: »Na, dann: Gute Nacht!«
Die Nachbarn schauen mir mit glasigen Augen nach, einige von denen sind wohl auch schon ziemlich alkoholisiert. Na, das passt ja. Dann fällt mein Alkoholismus nicht ganz so stark auf. Wie gesagt: Normalerweise stehe ich eher auf Kontrolle. Auf der anderen Seite denke ich: Es gehört zum Künstlerleben dazu, auch mal die Besinnung zu verlieren. Schließlich will ich Bildhauerin werden - und ich kann nur dann großartige Skulpturen formen, wenn ich vorher auch mal tüchtig den Abgrund hinuntergesehen habe. Also: Die dunkle Seite des Lebens kenne. Ist jedenfalls meine Meinung.
Offenbar hat Rita auch schon ordentlich einen sitzen. Mama meint: »Sie wollte mal Schriftstellerin werden.« Tja, das hat nicht geklappt. Darum tut sie jetzt zumindest so. Leute, das ist wiederum ziemlich traurig. Im Moment hängt sie weiter hinten beim Schaukelstuhl rum und schreit in das Ohr von Corinnas Mutter: »Weißt du schon, dass mich mein Mann verlassen hat? Einfach so? Nicht zu fassen, was?«
Corinnas Mutter schlägt gespielt überrascht die Hände über dem Kopf
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