Level X
Gedanken: Flucht. Ich war inzwischen zu der festen Überzeugung gelangt, dass es m i r nur irgendwie gelingen m üsse, hier herauszukom m en, um m ein altes Leben wieder in den Griff zu b e kom m en. Der W ahnsinn der jüngsten Vergangenheit würde hier in dieser sterilen weißen G e fängniszelle zurückbleiben.
W i e ich ve r m utet hatte, ließ sich das Fenster nur einen Spaltbreit öffnen, und selbst wenn das Glas nicht bruchsicher gewesen wäre, hätte ich den L är m , es zu zersch m ettern, nicht riskieren können. Im m erhin konnte ich feststellen, dass ich m i ch i m ob e rsten Stockwerk eines L-fö r m igen, m odernen Gebäudes befand, das am Rande des Klinik g eländes zu s t ehen sc h i e n . Bei m einem Besuch im Bad hatte ich bereits die Falltür in der Decke be m erkt. Mit einem Fuß auf dem W aschbecken und dem anderen auf dem Wasserkasten der T o ilettenspülung stehend, gelang es mir m it einiger Anstrengung, die Tür zu öffn e n und m i ch selbst in die Dunkelheit dahinter zu hieven.
In jener Nacht m achte ich eine Entdeckung, die ich bis heute nicht vergessen habe. Ich fand heraus, wie leicht es ist, m it einem Mord davonzukomm e n. W as natürlich nic h t im Wortsinn ge m eint ist; ich m usste nie m anden töten, um aus der Klinik zu gelangen. Aber da war ich: in der einen Minute noch in m ein e m Krankenhauskittel, barfuß, ohne einen Cent in der Tasche, auf d e m düsteren D achboden u m herirrend und einen Weg nach unten suchend – und in der nächsten winkte ich ein Taxi herbei und ließ m i ch in Richtung L ong Chi m n e ys fahren. Ich war ganz zufrieden m it m einem Aussehen:
Tweed-Jacke, graue Flanell-Hosen und beque m e Markenschuhe. Irgendeiner d e r Ärzte würde sich ga n z schön ärgern, wenn er in dieser Nacht zu seinem Schrank im U m kleideraum zurückka m . Egal, ich würde alles zurücksc h i cken, ein s chließlich des Geldes, da s ich aus einer Frauenhandtasche gef i scht hatte, die je m and für einen kurzen Augenblick unbeobachtet in der Nähe des E m pfangss c halters hatte stehen l a ss e n. Schließli c h war ich kein Dieb!
Long Ch i m neys war natürlich unweigerlich der erste Ort, an dem sie n ach mir suc h en w ürden, sobald m eine Flucht entdeckt worden war. Aber im Augenblick hatte ich noch den Vorteil der Ü berraschung auf m einer Seite, und ich m usste m it Anne alleine reden. Ich ließ das Taxi etwa fünfhundert Meter vor dem Ziel anhalten und legte das letzte S t ück zu Fuß zurück. Im Haus brannten Lichter, aber es g ab keinerlei A nzeichen v o n außerge w öhnlichen Aktivitäten – keine Polizei- oder Krankenwagen, keine dunklen Gestalten, die sich im Schatten herumdrückten. Es war durchaus m öglich, dass m eine Flucht noch im m er nicht be m erkt worden war, aber ich durfte keine Zeit m ehr verlieren. D urch die Hecke (die dringender geschnitten werden m u s ste, als ich es in Erinnerung hatte, wie ich m it einem unter diesen Umständen leicht perversen Sinn für unbedeutende Details festste l lte) konnte ich sehen, dass die Vorhänge in unserem Wohnzimmer zurückgezogen waren. Ich schlich weiter, bis ich einen freien Blick in das Zimmer hatte, in der Hoffnung, Anne alleine vorzufinden. Was ich dort allerdings t a tsächlich sah, traf m i ch vollkom m en unvorbereitet.
Der Mann stand m it d e m Rücken zu m i r, und m e in erster Gedanke war, dass es sich um Harold handeln m usste. Dann setzte er sich in Bewegung, um eine Zeitung aufzuheben, und m i r wurde klar, dass ich diesen Mann nie zuvor gesehen hatte.
Eine Frau betrat das Zimmer, auch sie eine vollk o m men Fre m de. Die beiden wechselten ein paar W orte, und dann rief sie etwas in die Küc h e hinüber. W i e hypnotisiert schlich ich m i ch an der Wand entlang um die E c ke. Durch das Küchenfenster sah ich zwei Kinder, schätzungsweise im Alter von zehn und zwölf Jahren. Sie trugen schon ihre Schlafanzüge und tollten jauchzend um d e n Tisch, zusam m en m it einem großen sch w arz-w e ißen engli s chen Schäferhund.
Ich m uss eine ganze Weile lang so dagestanden und diese Fremden angestarrt haben; und nicht nur die Fre m den, wie m i r irgendwann aufging, auch die Möbel, die Bilder an den W änden, den großen Fernseher, der den ganzen Raum do m i nierte. U nd nichts davon hatte etwas m it m i r zu tun, m it m e inem Leben, m it Anne oder m it unserem Sohn. Je m and war in unser Haus gezogen und hatte alle Spuren, dass w i r je dort gewohnt hatten, ausgelösc h t.
Irgendwann
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