Leviathan - Die geheime Mission
schlimmsten Perioden des Dampfzeitalters hatten so viel
Ruß und Asche die Landschaft der Umgebung überzogen, dass Schmetterlinge auf den Flügeln schwarze Punkte als Tarnung gebildet hatten.
Aber noch vor Deryns Geburt waren die kohlebetriebenen Maschinen von Tierschöpfungen ersetzt worden. Statt Kesseln und Zahnrädern arbeiteten nun Muskeln und Sehnen. Heute kam der Rauch aus den Schornsteinen nur noch aus den Öfen, nicht mehr aus riesigen Fabriken, und der Sturm hatte selbst den weit fortgeblasen.
Deryn sah Tierschöpfungen, wohin sie auch sah. Über dem Buckingham-Palast kreiste eine Schar Kampffalken auf Patrouille. Sie trugen Netze, mit denen man die Flügel von jedem Flugzeug schneiden konnte, welches sich dem Palast zu sehr näherte. Kreuz und quer über der City von London flogen Briefschwalben, die sich von keinem Wetter stören ließen. In den Straßen drängten sich die Zugtiere: Flusspferdartige und Pferderassen und ein Elefantiner zog einen Schlitten mit Ziegeln durch den Regen. Der Sturm, der Deryn und ihren Huxley beinahe umgebracht hatte, wurde unten in der Stadt kaum wahrgenommen.
Deryn wünschte, sie hätte ihren Skizzenblock dabei, um das Gewirr von Straßen und Tieren und Gebäuden unten zu zeichnen. Mit dem Zeichnen hatte sie in einem von Dads Ballons begonnen, um das Wunder des Fliegens festzuhalten.
Die Wolken brachen teilweise auf und der Huxley glitt
durch Sonnenstrahlen. Deryn rekelte sich in der Wärme und drückte das Wasser aus ihrer kalten nassen Kleidung.
Die Häuser wurden kleiner, die Regenschirme verschmolzen mit den nassen Straßen. Da der Huxley trocknete, stieg er höher.
Deryn runzelte die Stirn. Um mit einem Ballon zu landen, lässt man oben die warme Luft ab. Aber Huxleys sind primitive Aufsteiger, die eigentlich immer an einer Leine bleiben. Was sollte sie tun? Mit dem Tier reden, damit es landete?
»He!«, rief sie. »Du da!«
Das Tentakel in ihrer Nähe rollte sich leicht auf, aber das war alles.
»Tierchen! Ich rede mit dir!«
Keine Reaktion.
Deryn zog eine finstere Miene. Vor einer Stunde hatte sich der Huxley noch so leicht erschrecken lassen! Vielleicht zählten die verärgerten Rufe eines Mädchens nach dem entsetzlichen Sturm nicht mehr so viel.
»Du bist ein großer, aufgeblasener Pennbruder!«, schrie sie und bewegte die Füße auf und ab, um den Pilotensitz zum Schaukeln zu bringen. »Mir wird langsam langweilig von deiner Gesellschaft! Bring! Mich! Runter!«
Die Tentakel entrollten sich wie eine Katze, die sich in der Sonne ausstreckt.
»Na großartig«, knurrte sie. »Unhöflichkeit gehört wohl zu deinen Geburtsfehlern.«
Sie flogen wieder durch die Sonne, und die Meduse
seufzte leise und breitete den Luftsack aus, um sich trocknen zu lassen.
Deryn spürte, wie sie immer höher schwebten. Sie stöhnte und betrachtete den blauen Himmel vor sich. Inzwischen konnte sie bereits das Ackerland von Surrey sehen. Dahinter lag der Ärmelkanal.
Zwei endlose Jahre lang hatte sich Deryn nichts sehnlicher gewünscht, als wieder in die Lüfte aufzusteigen, so wie damals, als Dad noch gelebt hatte. Und jetzt flog sie hier entlang, als hätte man sie im Himmel ausgesetzt. Vielleicht war das die Strafe dafür, dass sie sich als Junge verkleidet hatte, genau wie ihre Mutter es prophezeit hatte.
Der Wind wehte jetzt gleichmäßig aus einer Richtung und trieb das Tier in Richtung Frankreich.
Es würde wohl ein langer Tag werden.
Dem Huxley fiel es zuerst auf.
Das Pilotengurtzeug ruckte wie eine Kutsche, die über ein Schlagloch fährt. Deryn wurde aus ihrem Schläfchen gerissen und blickte zur Meduse hoch.
»Wird dir langweilig?«
Das Flugtier schien zu glühen, die Sonne schien prall auf die schillernde Haut. Es war Mittag, sie waren also bereits über sechs Stunden in der Luft. Der Ärmelkanal funkelte nicht weit vor ihnen unter einem makellos blauen Himmel. Londons graue Wolken hatten sie weit hinter sich gelassen.
Deryn runzelte die Stirn und reckte sich.
»Brüllend schönes Wetter«, krächzte sie. Ihre Lippen waren trocken und ihr Hintern tat ordentlich weh.
Dann sah sie, wie sich um sie herum die Tentakel verschlangen.
»Was ist denn jetzt los?« Deryn stöhnte, obwohl sie sogar eine angreifende Vogelschar begrüßt hätte, wenn die den Huxley nur nach unten gebracht hätte. Selbst eine Bruchlandung wäre besser, als hier oben zu verdursten.
Deryn suchte den Horizont ab, entdeckte jedoch nichts. Aber sie spürte ein Zittern in den
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