Leviathan - Die geheime Mission
Deryn.
»Unglücklicherweise haben wir nicht genug Wasserstoff.«
Verunsichertes Murmeln breitete sich bei der Mannschaft aus. Die kleinen Tierchen im Darm des Wals erzeugten doch den Wasserstoff, auf die gleiche Weise, wie Menschen Kohlendioxid ausatmeten. Selbst nach einem langen Winterschlaf konnte das Schiff binnen weniger Tage zu seiner alten Gestalt anschwellen.
Normalerweise war das so simpel, dass niemandem das Offensichtliche auffiel: Wasserstoff fiel nicht vom Himmel. Sondern dafür waren die Bienen und Vögel des Luftschiffes notwendig.
Der Obereierkopf trat vor.
»Die Alpen waren einst in uralten Zeiten der Grund eines Meeres«, sagte er. »Doch jetzt handelt es sich um die höchsten Gipfel Europas, wo weder Mensch noch Tier leben können. Wenn Sie sich umschauen, werden Sie weder Insekten, Pflanzen oder auch nur kleine Beutetiere für unsere Schwärme entdecken. Momentan leben unsere Schöpfungen von den Vorräten des Schiffes. Solange sie leben, wird das Schiff ihre Exkrete verarbeiten und langsam die Wasserstoffzellen wieder auffüllen.«
»Exkrete?«, flüsterte Newkirk.
»So nennen Eierköpfe Schiet«, erwiderte Deryn und Newkirk lachte schnaubend.
»Aber als die Leviathan entworfen wurde«, fuhr Dr. Busk fort, »hat niemand an eine Landung an einem so unwirtlichen Ort gedacht. Und ich fürchte, die Berechnungen sind in dieser Hinsicht eindeutig: Aller Wasserstoff in den Vorräten des Schiffes genügt nicht, um uns in die Luft zu bringen.«
Erneut breitete sich Gemurmel bei der Besatzung aus. Inzwischen hatten die Männer begriffen, was los war.
»Manch einer wundert sich vielleicht«, sagte Dr. Busk mit einem schiefen Lächeln, »warum wir nicht einfach Wasserstoff aus dem Schnee nehmen.«
Deryn runzelte die Stirn. Sie hatte sich darüber nicht gewundert, allerdings erschien ihr die Frage eine Überlegung wert. Schnee bestand aus Wasser und Wasser bestand aus Wasserstoff und Sauerstoff. Ihr war es immer ein wenig suspekt erschienen, dass zwei Gase, die sich vermischten, plötzlich eine Flüssigkeit ergaben, aber die Eierköpfe waren sich dessen wohl absolut sicher.
»Unglücklicherweise erfordert es Energie, Wasser in seine Elemente aufzuspalten, und Energie erfordert Nahrung. Das Ökosystem, auf dem wir leben, muss aus der Natur versorgt werden, um sich selbst zu reparieren.« Dr. Busks Blick schweifte über den Gletscher. »Und an diesem entsetzlichen Ort bietet die Natur leider überhaupt nichts.«
Während der Kapitän jetzt wieder vortrat, hörte Deryn kein Geräusch außer dem Wind in der Takelage und dem Schnaufen der Wasserstoffschnüffler. Die Besatzung war verstummt.
»Früh heute Morgen haben wir zwei Briefschwalben abgeschickt, die unsere Position der Admiralität melden sollen«, sagte der Kapitän. »Ganz sicher wird bald eines unserer Schwesterschiffe hier eintreffen, vorausgesetzt, der Krieg kommt dem nicht in die Quere.«
Die Mannschaft lachte und Deryn verspürte einen Micker Hoffnung. Vielleicht sah die Lage doch nicht so düster aus, wie Dr. Barlow glaubte.
»Allerdings kann eine Rettungsmission für hundert Männer in Kriegszeiten Wochen dauern.« Der Kapitän hielt inne, der Obereierkopf neben ihm schaute grimmig drein. »Wir haben nicht viele Lebensmittel in unseren Vorräten – die reichen höchstens für eine Woche bei halber Ration. Länger, wenn wir die anderen Quellen ausschöpfen, die uns zur Verfügung stehen.«
Deryn zog eine Augenbraue hoch. Welche anderen Quellen? Der Obereierkopf hatte gerade gesagt, auf dem Gletscher gebe es nichts zu finden.
Der Kapitän hob den Kopf. »Und in erster Linie gilt meine Verantwortung Ihnen, den Männern meiner Besatzung.«
Den Männern – nicht den Tierschöpfungen. Wollte er den Tieren die Nahrung wegnehmen? Aber bestimmt meinte der Kapitän nicht …
»Um uns zu retten, müssen wir die Leviathan vielleicht sterben lassen.«
»Brüllende Spinnen!«, schrie Newkirk.
»Dazu wird es nicht kommen!«, sagte Deryn und nahm
ihm das Mechanisten-Fernglas aus der Hand. »Mein verrückter Freund wird uns helfen.«
»Was?«, fragte Newkirk.
»Sagen Sie den Männern an der Winde, sie sollen mir Seil geben«, meinte sie. »Ich bin bereit zum Aufsteigen.«
»Finden Sie nicht, das wäre ein wenig unhöflich?«, flüsterte Newkirk. »Aufzusteigen, während der Kapitän redet?«
Deryn schaute hinauf auf den Gletscher – nichts als trostloser weißer Schnee, der grell zu leuchten begann, während die Sonne aufging. Doch
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