Leviathan erwacht - Corey, J: Leviathan erwacht - Leviathan Wakes (The Expanse Series Book 1)
nicht«, sagte sie. Es klang allerdings nicht verärgert. »Ich habe wochenlang gewartet, ob Sie sich endlich überwinden, und das Schiff ist fast fertig. Das heißt, dass wir uns wahrscheinlich bald freiwillig für irgendetwas Dummes melden, und dieses Mal könnten wir Pech haben.«
»Tja …«, sagte er.
»Wenn das geschieht, ohne dass es einer von uns wenigstens mal versucht hat, werde ich sehr unglücklich sein.«
»Naomi, ich …«
»Es ist ganz einfach, Jim.« Sie fasste wieder seine Hand und zog ihn zu sich. Dann beugte sie sich vor, bis sich ihre Gesichter fast berührten. »Es heißt entweder Ja oder Nein.«
»Ja.«
44 Miller
Miller saß allein auf dem Beobachtungsdeck und starrte durch das große Fenster hinaus, ohne wirklich zu sehen, was sich draußen befand. Der Pegel des Whiskys auf Pilzbasis, der neben ihm auf dem niedrigen Tisch stand, hatte sich seit der Bestellung nicht verändert. Eigentlich war es nicht einmal ein Drink, sondern die Erlaubnis, sich zu setzen. Auch auf Ceres hatte es eine Handvoll Obdachlose gegeben. Männer und Frauen, die das Glück im Stich gelassen hatte. Kein Ort, zu dem sie gehen konnten, niemand, den sie um einen Gefallen bitten konnten. Keine Verbindung zum weiten Netz der Menschheit. Er hatte immer Mitgefühl mit ihnen gehabt. Sie waren Brüder im Geiste gewesen.
Jetzt gehörte er selbst zu diesem heimatlosen Volk.
Auf der Außenhülle des riesigen Generationenschiffs passierte etwas – ein Schweißapparat fixierte irgendein Bauteil. Jenseits der Nauvoo , geborgen in den Aktivitäten der Tycho-Station, die an einen Bienenstock erinnerte, war ein Stück der Rosinante zu erkennen. Ein Heim, das ihm nie gehört hatte. Er kannte die Geschichte von Moses, der ein gelobtes Land gesehen hatte, das er nie betreten würde. Miller fragte sich, wie der alte Prophet sich gefühlt hätte, wenn er dies hier für einen Tag, eine Woche oder ein Jahr hätte betrachten können, um anschließend in die Wüste zurückgeschickt zu werden. Da wäre es freundlicher gewesen, er hätte die Wüste nie verlassen müssen. Sicherer.
Juliette Mao saß neben ihm und beobachtete ihn aus dem Winkel seines Geistes, den er für sie freigeräumt hatte.
Ich sollte dich retten, dachte er. Ich sollte dich finden und die Wahrheit aufdecken.
Und? Hast du das nicht getan?
Er lächelte sie an, sie erwiderte das Lächeln. Sie war so müde und ausgelaugt wie er. Natürlich hatte er es getan. Er hatte sie gefunden und aufgedeckt, wer sie getötet hatte, und außerdem hatte Holden recht. Er hatte Rache geübt. Er hatte alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte. Geholfen hatte es ihm nicht.
»Darf ich Ihnen noch etwas bringen?«
Im ersten Augenblick dachte Miller, Julie habe gesprochen. Die Bedienung öffnete den Mund, um die Frage zu wiederholen, doch er schüttelte den Kopf. Nein, sie sollte ihm nichts bringen. Er konnte es sich nicht leisten.
Du wusstest doch, dass es nicht von Dauer war, sagte Julie. Holden und seine Crew – dir war klar, dass du nicht dorthin gehörst. Du gehörst zu mir.
Mit rasendem Herzen fuhr er auf und sah sich um, doch Julie war fort. Seine professionellen Fluchtreflexe ließen keinen Raum für Tagträume und Halluzinationen. Trotzdem. Du gehörst zu mir.
Er fragte sich, wie viele Leute, die er kannte, diesen Weg gegangen waren. Schon lange bevor die Menschheit die Schwerkraftsenke verlassen hatte, waren Cops an ihren eigenen Waffen zugrunde gegangen. Nun saß er ohne Heim und Freunde herum, nachdem er im letzten Monat mehr Menschen getötet hatte als vorher in seiner ganzen beruflichen Laufbahn. Der firmeneigene Irrenarzt hatte in seiner jährlichen Ansprache vor den Sicherheitsteams von Selbstmordneigungen gesprochen. Man sollte das im Auge behalten wie Filzläuse oder den Cholesterinspiegel. Eigentlich keine große Sache, wenn man vorsichtig war.
Also war er vorsichtig gewesen. Eine Weile. Um zu sehen, wie es sich entwickelte.
Er stand auf, zögerte drei Herzschläge lang, nahm den Bourbon und kippte ihn mit einem Schluck. Flüssiger Mut, so nannte man das. Es schien zu wirken. Er zückte sein Terminal, stellte die Verbindung her und sammelte sich. Noch hatte er es nicht geschafft, und wenn er überleben wollte, brauchte er einen Job.
»Sabez nada, Pampaw«, sagte Diogo. Der Bursche trug ein Netzhemd und Hosen in einem Schnitt, der zugleich jugendlich und hässlich war. Früher hätte Miller ihn als jemanden abgeschrieben, der zu jung war, um etwas Nützliches zu
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