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Lewitscharoff, Sibylle

Lewitscharoff, Sibylle

Titel: Lewitscharoff, Sibylle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apostoloff
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Mädchen sind, haben einen fiebernden Rotmund, spateiförmige
Nägel mit Glitzerlack, der Rock endigt, aufrechte Haltung vorausgesetzt, zwei
Zentimeter vor Insichtkommen der Unterhose. Eine weitere Spezialität der
Kellnerinnen, überhaupt der Bulgarinnen: sie sind parfümfreudig. So riecht mein
Salätchen, sonst eher eine neutrale Angelegenheit, als hätte es im Regal einer
Drogerie übernachtet.
    Wir
bleiben nicht länger, als wir müssen, und laufen anschließend in den Gassen
herum, eine hinunter, eine hinauf. Es ist erst zehn, die Stadt schon
schlafesmüde. Wo noch Licht ist, dringt Fernsehflimmern aus den Fenstern. Ein
Reiseführer empfiehlt, am Abend zwischen Bars und Nachtclubs hin und her zu
schlendern, um den Tag ausklingen zu lassen. Gottlob ist der Lautsprecher in
der Burg inzwischen abgeschaltet. Eine Handvoll englischer Rentner, die
schütteren Nachfahren unbeugsamer Kolonialoffiziere, ist tatsächlich noch
unterwegs. Ohne Tropenhelm und Tropenanzug sind Engländer gewöhnlicher, als man
sie sich wünscht. Sie scheinen von der alten Königsstadt begeistert zu sein,
man trifft sie unten, man trifft sie oben, sie haben Häuser in der Gegend und
richten die Gärten nach den Empfehlungen von Gartenmagazinen her. Dass Veliko
Tarnovo ein bedeutender Zarensitz gewesen sein soll, wie uns Rumen versichert,
wäre uns nie eingefallen.
    Im
Hotel - wir wiegen die Holzkugeln schon in den Händen - wird Rumen vom Apparat
im Eck magisch angezogen. Mit dem Arm befiehlt er uns Schweigen, eine ungewöhnlich
dramatische Geste. Offenbar laufen Nachrichten: am Straßenrand ein
Kühltransporter, Blaulicht, Polizisten wuseln umeinander. Rumen schlägt sich
mit der Hand auf die Stirn, stammelt, erst auf bulgarisch, dann auf deutsch -
das - das - glaube er einfach nicht! Wir treten näher heran, verstehen aber
nicht, was los ist.
    Diesmal
sind uns Rumens Übersetzungskünste hochwillkommen. Der Kühlwagen, auf den er
immer noch fassungslos zeigt, ist derselbe, den wir auf der Autobahn überholt
haben. Ein rumänischer Transporter, voll mit Fleisch, zwanzig
Jahre altem Fleisch! Aus Irland! Rumen glaubt es nicht,
wir können es auch kaum glauben, aber nein, Rumen hat sich nicht verhört:
zwanzig Jahre altes Fleisch, Rinderhälften aus Irland in gelblichem
Fettmantel, eingeschweißt in Folie. Eisdämpfe wehen von der geöffneten
Ladeluke. Zwanzig Jahre altes Fleisch! Auch der Nachrichtensprecher muss es
mehrfach wiederholen, wie um sich selbst davon zu überzeugen. Der Empfangsmensch
ist aufgetaucht, Rumen und er kommentieren die Nachricht lebhaft, sie greifen
sich an die Köpfe, stöhnen, schimpfen, lachen hysterisch, Rumen bestellt sich
ein Glas Bier, das er, um seiner Erregung Herr zu werden, in einem Zug leert.
    Meiner
Schwester wird flau im Magen, ihre Sorge gilt den faden Hackfleischrollen, von
denen sie gerade vier Stück verzehrt hat, ich gottlob nur eine. Sag' ich's
doch, rufe ich triumphierend, außer Salat darf man in diesem Land nichts
anrühren. Rumänien! kontert Rumen erbost, das Fleisch war für die Rumänen
bestimmt! Er ist jetzt sehr aufgebracht, und ich sollte ihn besser nicht
reizen. Da uns die weiteren Nachrichten nicht kümmern, lassen wir die Männer
allein und verziehen uns in den ersten Stock. Im Gang stolziert meine Schwester
wortlos an mir vorüber und wedelt kokett mit der Linken, ohne sich umzudrehen,
so sicher ist sie, dass mir keine ihrer Bewegungen entgeht.
    Inzwischen
regnet es. Ich öffne die Fensterflügel weit. Die Tropfen fallen geradlinig, in
soldatischem Gleichmaß. Mir ist es recht. Tropfen hindern Insekten am Fliegen.
Nachtregen klärt die Luft und hilft beim Einschlafen, Nachtregen verbreitet
Schweigen, weil alle widrigen Geräusche überrauscht werden. Wenn da nur nicht
die Kälte wäre. Seit man uns die Zustimmung dafür abgekauft hat, die Reste unseres
Vaters auszugraben und einer bulgarisch-schwedischen Spezialfirma zu
überlassen, spüre ich eine rätselhafte Kälte in meinen Knochen. Was die Gelenke
früher nie getan haben, tun sie jetzt: sie senden Phantomschmerzen. Lauter
Nadelstiche, die mir zur Einsicht verhelfen, wie das Skelett in seinen Teilen
zusammenhängt. Provisorisch nur, melden die Stiche, leicht zu trennen.
     
    Wieviel?
     
    Rumen
empfängt uns mit seiner üblichen Morgenzimperlichkeit. Sein Rücken schmerzt,
der Nacken schmerzt, vielleicht auch ein Zahn, Magen, Knie, ein Zeh, wer weiß.
Er beginnt mit nach oben verdrehten Augäpfeln seine Nackenübungen,

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