Lewitscharoff, Sibylle
die Füße wippend, das
winzige Kinn trotzig im Hals vergraben, und kein Wort. Wir waren eins und boten
zäh die Stirnen. Die große Liebe zu meiner Schwester rührt von diesen
gemeinsamen Kämpfen her. Wie gerne würde ich jetzt neben ihr auf einer Mauer
sitzen und in derselben Haltung wie damals ganz Bulgarien trotzen. Aber aus
meiner Schwester ist längst eine geschmeidige Erwachsene geworden, die alles
nimmt, wie's kommt, und sehr im Unterschied zu mir fast alles verzeiht.
Die
Burg Teck langweilte uns ebenso gründlich, wie die drei Kaiserberge Staufen,
Stuifen, Rechberg uns langweilten. Wir gähnten, blickten demonstrativ zu
Boden, wenn man uns befahl, an den Ruinen hochzusehen, und wanderten in mörderischer
Bravheit hinter unseren Eltern her, Hand in Hand.
Verglichen
mit den kümmerlichen Resten hier sind die schwäbischen Burgen beeindruckende
Anlagen. Unbegreiflicherweise führt sich meine Schwester auf, als wäre ihr
ganz weltwunderlich zumut; auch die hellen Flaumhaare auf ihren Armen scheinen
die Anwesenheit des mythischen Zaren zu spüren. Mit ihrer Andacht und dem
ewigen Gelächel hat sie sich aus Rumen einen Wachsmann geknetet, mit dem sie
machen kann, was sie will.
Mir
graut vor soviel weiblicher Durchtriebenheit. Einzig der Hinrichtungsfelsen
weckt mein Interesse. Die Verurteilten wurden lebendig hinabgeworfen, ihre
Leichen den Vögeln und Maden geschenkt. Eine Halde aus durcheinandergeratenen
Knochen alsbald, wie man sich leicht vorstellen kann. Ein bleiches Fluchfeld,
auf dem die Knochen Nacht für Nacht erwartungsvoll klapperten: Kommt wer?
Sortiert uns? Macht, dass sich alles neu befleischt, Adern, Muskeln, Sehnen,
Nerven wachsen?
Ich
setze mich auf eine Mauer und lasse die beiden ziehen. Miez hat mich einer
Engländerin zuliebe aufgegeben, die ihm weißes Brot verfüttert. Eine Krähe
spaziert herum, weitab vom Schwarm. Angeblich auf nichts Bestimmtes aus.
Würdevoller Schwippgang ohne erkennbares Ziel.
Tipptapp,
schon wieder mengt sich der Vater ein, drückt die Fingerspitzen an den Mund,
wie um sich zu bedenken. Sein Schwarzhaar so sauber und akkurat, als hätte ihn
der Traum für uns gekämmt.
Denkt
mal in aller Ruhe nach, will er damit sagen. Nur nicht so vorlaut, meine
Töchter. Kein Mensch nimmt euch ab, wenn ihr behauptet, ihr wüsstet Bescheid.
Das
ist natürlich leeres Gerede, wie üblich.
Wir
wissen wenig. Na und? Ist doch klar: auch wenn wir Bulgaristik, Schafskäserei
und Indoeuropäische Selbstmordkunde mit Schwerpunkt Psychopathologie männlicher
Gynäkologen studiert hätten - für ein Richteramt in Sachen Vater kämen wir
nicht in Frage. Nicht mal für ein schäbiges Familiengericht, das in einer
Baracke tagt. Für ein hohes sowieso nicht. Meine Schwester und ich treten entweder
Seit' an Seit' auf oder konfrontativ, en face. Wollten
wir hoch hinaus und richten, müssten wir uns in die Sitzordnung des Obersten
Gerichts fügen, einen Halbkreis, offen gegenüber der Welt wie ein Amphitheater
und zugleich Nabel der Welt. Es heißt, die einundsiebzig Richter des Obersten
Gerichts könnten einander schräg von der Seite ins Antlitz sehen, dürften sich
aber niemals die Rücken zukehren oder aus nächster Nähe frontal in den Blick
nehmen.
Makrelenwölkchen
am Himmel, von zartester Riffelung. Ein Richter schöpft Kraft, wenn er
aufblickt und sich am Himmel ergötzt. Zwischen einer Patientin und der nächsten
müsse er kurz ins Grüne sehen, behauptete der Vater, als er noch im Arztkittel
umherging. Und was machst du im Winter? fragten wir prompt und bekamen keine
Antwort.
Wäre
meine Schwester nicht mit Rumen auf und davon, würde ich jetzt Richterfragen
vor ihr ausbreiten und ihre Antworten widerlegen.
Nein,
Schwester, da liegst du falsch. Sag nicht, die Blickordnung sei sekundär. Im
Gegenteil, sie ist wesentlich, wenn ein gerechtes Maß gefunden werden soll.
Jetzt zum Beispiel, da ich allein bin und durch die Gläser der Sonnenbrille
der wandernden Krähe nachschaue, kein menschliches Gesicht im Halb-, Viertel-
oder Dreiviertelprofil mich zur Besinnung ruft, könnte ich bloß nach
Krähenbeinen richten. Verfolgung der Beine bis zum nächsten Marschknick,
letztaufgesetztes Bein gilt. Rechtes Bein: zum Henker! Linkes Bein:
Freispruch!
Unmöglich,
sich zu verständigen, wenn man in gerader Reihe nebeneinandersitzt. Das hat Beckett
bewiesen. Mit schlagender Komik. Ein für allemal. Erinnere dich, Schwester, du
hast mir die Stelle vorgelesen, wir haben uns vor Lachen gebogen.
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