Lewitscharoff, Sibylle
hoch. Meine Schwester folgt mit einem
schwebenden Lächeln. Ich trotte wie üblich hinterher und inspiziere die
scharfen Kanten der nackten Treppenstufen. Kämen Knöchel oder Fersen ihnen zu
nahe, würde man sich gewiss verletzen.
Meine
Schwester und ich bewohnen verschiedene Zimmer. So weit geht die
Schwesternliebe nicht, dass wir zusammen ein Zimmer nähmen. Auch die
Gewohnheiten erlauben es nicht. Meine Schwester schläft nachts wie befohlen.
Sie ist im Besitz der dafür nötigen Gewissensleichtigkeit. Ich bin mit dem
Wachfluch belegt, wandere herum, kann zwischen Lichtaus und Lichtan kein Ende
finden, sehe Reklamen und Scheinwerfer, die über die Vorhänge fahren, höre
noch die entlegensten Geräusche, die gemacht werden, eigens für mich, weil
jemand einen Rochus auf mich hat, sich als Feind aber nicht zu erkennen geben
will.
Zu
früh, um an Schlaf zu denken. Wir rücken wieder aus, laufen über marodes
Pflaster, vorbei an überquellenden Mülltonnen, auf der hoffnungslosen Suche
nach einem Wirtshaus, das mit weniger schlechtem Öl brät als üblich. Katzen
treiben sich herum, die sofort mein Interesse wecken. Kreuzt eine Katze meinen
Weg, brechen Schnurrhaare aus meiner Haut, und eine niedere Welt, gesponnen
aus dunklen Ecken und schweren Gerüchen, will mich zum Schleichen bringen.
Rumen
zeigt sich von der lustigen Seite, er hat seinen Zuversichtsgenerator
angeworfen, der ihm die fröhlichsten Prospekte ins Hirn wirft. Im Eifer des
Hungers mustert er die mit Lämpchen behängten Fassaden wie ein wählerischer
Bordellbesucher, beugt sich wisserisch zu den ausgehängten Speisezetteln
hinunter. Meine Schwester, dieses nach allen Windrichtungen schwankende
Temperamentsrohr, lässt sich von ihm anstecken, fasst den Burschen sogar beim
Arm und lacht mit ihm, als wäre ich nie zur Welt gekommen.
Wir
landen in einem Lokal mit krachend lauter Musik und einer überforderten
Kellnerin.
Und
nun beginnt Rumens Lieblingsritual, das in meiner Schwester Heiterkeit erzeugt,
mich aber schier zur Raserei bringt. Er entknickt seine Lesebrille, ein
schickes Exemplar, das für gewöhnlich als Schmetterlingspuppe in enger Hülle
ruht. Würdig wie eine Koryphäe des neunzehnten Jahrhunderts gibt er sich dem
Studium der Karte hin. Dazu werden die Augenbrauen wechselweise hoch- und
niedergezogen, sein Kennermündchen tritt auf den Plan, ein mal abschätziges,
mal wohlwollendes Mmm (tief
angesummt) oder Hhhmm (erwartungsfroh
in die Höhe gezogen) begleitet Gericht für Gericht. Nebenbei werden wir mit
den Lieblingsessen im Hause Apostoloff bekannt, worin die Mutter als
unübertroffene Kochfee waltet - obwohl die Witwe blind und gichtig ist, kaum
mehr stehen kann und die Küche im vierzehnten Stock des Stadtteils Mladost in
Sofia vor Schmutz starrt, wie wir uns überzeugen konnten. Rumens Hände ahmen
jetzt Tätigkeiten wie Blattwickeln nach, zerreiben imaginäre Gewürze zwischen
den Fingern, der mit dem Daumen rundgeschlossene Zeigefinger weist auf
Vorzüglichkeit hin. Eins der berühmten Apostoloffschen Hausgerichte befindet
sich auf der Karte und muss natürlich probiert werden.
Damit
aber nicht genug. Zu meinem Arger ist die Karte wieder einmal besonders lang,
und Rumen lässt es sich nicht nehmen, alles zu übersetzen. Ihm bei diesem Krach
zuhören zu müssen ist eine Tortur. Es nutzt nichts, dass wir gleich bei der
ersten Abteilung energisch die Köpfe schütteln: die Überraschungs-Pizza, die
Vier-Sektoren-Pizza, unerbittlich genau bekommen wir das versammelte bulgarische
Pizza-Elend aufgesagt.
Wir
bestellen, was wir immer bestellen, meine Schwester gebratene
Hackfleischröllchen mit Salat, wovon sie mir eins abgibt, ich den Salat mit Schafskäse,
bei dem man vor Überraschungen sicher ist, Rumen vier oder fünf Kleingerichte,
von denen wir kosten sollen. Die Kellnerin muss förmlich angeschrieen werden,
auch ihre jungen Ohren haben Mühe zu verstehen. Es schmeckt alles abscheulich,
salzlos, gewürzlos, verölt. Schafskäse, Tomaten und Gurke sind in Ordnung.
Nicht, dass uns das Verlangte bald gebracht worden wäre. Es dauerte zum
Verzweifeln lang, obwohl der Laden kaum halb voll ist.
Nur
die Kellnerin ist spektakulär. Da die frisch geschlüpfte Geldgeneration
inzwischen überzeugt ist, dass Frauen über dreißig das Geschäft schädigen,
kommen hübsche, blutjunge Sommerkellnerinnen zum Einsatz, die mitsamt Tellern
auf hohen Schuhen einherwanken. Sie haben ein lasterhaftes Aussehen, obwohl es
schwer schuftende
Weitere Kostenlose Bücher