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Lewitscharoff, Sibylle

Lewitscharoff, Sibylle

Titel: Lewitscharoff, Sibylle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apostoloff
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groß.
    Kozloduj
1876. Einer jener tiefhängenden Oktobertage, die zur Entscheidung reizen.
Botew und eine Gruppe Patrioten waren in Gärtnerkostümen an Bord eines Raddampfers
gegangen. Kaum auf Deck angelangt, legten die Patrioten Hacken, Scheren und
Blumenkörbchen weg, rissen sich die Kostüme vom Leib, nur um in noch prächtigeren
Kostümen zu verblüffen - mit goldenen Schnüren vor der Brust und goldenen Löwen
als Helmzier.
    Pistolen
hatten sie auch dabei. Damit zwangen sie den Kapitän der Radetzky, Freiheitsbotschaften an die gesittete Welt zu versenden. Vor
Ruse gingen die Patrioten wieder von Bord. Niemandem war auch nur ein Haar
gekrümmt worden. Doch die Bewohner entlang der Donau, die Botew und seine
Männer hatten in Jubel und Aufruhr setzen wollen, damit sie sich Waffen
beschafften und den Osmanen aufs Haupt schlügen, schauten verwundert auf den
schillernden Trupp und verzogen sich alsbald wieder auf ihre Äcker, um die
Reste der Ernte einzusammeln.
    Ein
Haus mit Äffchen an der Fassade ist zu bestaunen. Es ist entzückend. Was meinst
du, frage ich Miez, der mir nicht mehr von der Seite weicht: ob das Haus einem
Türken gehörte, bevor sich's ein Wiedergeburtler unter den Nagel riss?
    In
Veliko Tarnovo walte eine ungewöhnliche Harmonie von Baukunst und Landschaft,
schwärmt unser Bulgarienführer. Das süßholzt und baedekert eisern so fort und
ignoriert souverän die ganze Arbeit, die der Kommunismus geleistet hat, hier
wie überall. Was sich Altstadt nennt, klammert sich an den Zipfel eines Hügels
und ist von Plattenbauten eingekesselt.
    Wir
passieren eine Brücke und sind am Ziel. Die beiden haben beschlossen, mich
gnädig wieder in ihren Kreis aufzunehmen. Dass Miez inzwischen mit von der
Partie ist, ärgert zumindest Rumen, aber er sagt nichts. Hinter dem Kabuff, wo
die Eintrittskarten zu kaufen sind, gibt es eine Vorführung mit kindergroßen
Plastikpuppen, je nach Zusammensetzung der Touristengruppe auf deutsch,
englisch, französisch. Klapprige Rüstungen, ein Pferd, dem fast alle Haare
ausgegangen sind. Mir gefällt, wie es wiehert. Die Tonbandschleife ist
verzogen, das trotzige Kopfnicken des Pferdes bleibt stumm, Gewieher ist erst
zu hören, sobald der Kopf wieder stillsteht. Mit schrillen, verkratzten Stimmen
wird die Geschichte vom Ritter Balduin aus Flandern erzählt, wie er in Gefangenschaft
gerät, wie er sich unglücklicherweise in die Frau seines Bezwingers verliebt,
wie die beiden auffliegen und Balduin mit dem Schwert gerichtet wird. Rumen
zieht die Augenbrauen zusammen, weil ihm die Aufführung peinlich ist. Mich
amüsiert's, und meine Schwester lacht.
    Burgbesichtigungen
zählen nicht zu unseren liebsten Beschäftigungen. Ungute Erinnerungen legen
sich auf jeden ruinösen Stein, den wir heute anschauen. Fahrten nach den
schwäbischen Burgen der Umgebung gehörten zu den gottlob seltenen Sonntagsausflügen,
die wir gezwungen waren, mit unseren Eltern zu unternehmen. Jedes Mal setzten
wir uns heftig zur Wehr, wollten unsere Großmutter nicht verlassen, in deren
Haus wir alle lebten. Es half nichts, wir wurden verschleppt.
    Auf
der weichen Hinterbank des Citroën saßen wir stumm. Unser Vater war ein
ausgezeichneter Lenker, und seine Kleidung entsprach der eines Automobilisten
der dreißiger Jahre. Durchbrochene Lederhandschuhe, Käppi. Er raste nicht,
fuhr weder lahm noch ruckhaft, fluchte nie. Trotzdem wurde mir jedes Mal
schlecht, und es war die Aufgabe meiner Schwester, nach vorne zu melden, dass
wir anhalten müssten. Wie immer saß ich auf der rechten Seite, um schnell die
Tür öffnen zu können, kotzte routiniert, kehrte zurück, alle waren daran
gewöhnt.
    Danach
wurde ich übermütig und kasperte mit meiner Schwester lautlos herum. Wir
spielten Fingerhakeln, Armzwicken und Brennessel. Kein Wort entschlüpfte uns,
ein unterdrücktes Kichern höchstens, das sofort abbrach, wenn sich unsere
Mutter nach uns umdrehte. Es war uns nicht verboten worden, etwas zu sagen.
Wahrscheinlich hätten unsere Eltern lustigen Lärm von der Hinterbank sogar
geschätzt, er hätte sie vielleicht aufgemuntert. Wir hatten uns aber
geschworen, während des Ausflugs kein Wort zu reden. Wir waren die geübtesten
Schweigerinnen von ganz Degerloch. In geeinter Stummheit rächten wir uns an den
falschen Eltern, die glaubten, uns mit einer lächerlichen Gutwetteraktion davon
überzeugen zu können, sie führten sich wie richtige auf.
    Niemals
fühlten wir uns mächtiger, die Ärmchen über Kreuz,

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