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Lewitscharoff, Sibylle

Lewitscharoff, Sibylle

Titel: Lewitscharoff, Sibylle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apostoloff
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noch am Leben war.
    Obwohl
- jetzt kommen mir Zweifel. Mit gütlichem Zureden war da nichts auszurichten. Dass
der ehrenfeste Alexander mit unserer rabiaten Mutter fertiggeworden wäre, ist
mehr als zweifelhaft, Mutter, die nicht einfach mit einer Zigarette zwischen
die Lippen geklemmt in ihrem Sessel starb, wie ich immer gedacht hatte, sondern
nach einem Wutanfall.
    Auch
sie eine Christusempörte, die sich auf dem Sterbebett zu einer großen Szene
aufschwang. Eigentlich nicht mehr bei Kräften, den Kopf kaum heben könnend, mit
ruhelos wandernden Augen, irgendwie ungläubig, mit leicht schielenden und fast
frechen Mädchenaugen die Decke absuchend, mummelnden Mundes, in brummelndem Tonfall
immer wieder so, und was jetzt hervorbringend
oder so, jetzt hemmer den Salat, ihre
abgezehrten Greisenarme steckendünn, bäumte sie sich plötzlich auf, packte, was
auf ihrem Nachttisch stand, warf all das Zeugs, Teller, Becher, Pillen, Löffel,
Schachteln, nach einem Kruzifix, das an der Wand hing, zielte und traf's.
Tropfnaß die Wand, die Bescherung am Boden. Unsere Mutter am Ende.
    Nein,
sie meinte nicht den Erlöser, der am Kreuz geendet hatte, sondern den
unwürdigen Namensvertreter, mit dem sie verheiratet gewesen war. Kein Wort des
Hasses, keine Schmähungen, kein Fluch waren je über ihre Lippen gekommen,
nicht einmal harmlose Vorwürfe, mit denen sie sich hätte Luft verschaffen und
ihren Groll mindern können, zumindest uns gegenüber nie. Sie duldete nicht, dass
die übriggebliebene Familienhorde in Worten ihre Rache nahm. Ausgerechnet sie,
die Meisterin scharfer Sprüche und haltloser Verruchtheitsgesten, benahm sich
zahm. Den Mann war sie nie losgeworden. Der Mann musste intakt bleiben mit
nobler Krawatte um den Hals. Dabei wurde sie von ihm bis auf die Knochen
gequält, bis auf die Knochen heruntergeschabt wurden ihre Gefühle, noch im
hohen Alter hatte sie Alpträume vom Schlitzen und Erhängen, Erhängen und
Schlitzen, unwirksam bekämpft mit viel zu vielen Schlaftabletten. Sie lebte in
Kälte, Ordnung, Sauberkeit, mit achtzig Zigaretten am Tag (immer gut gelüftet,
Kippen sofort entsorgt), tadelloser Kontoführung und einer unbändigen Wut auf
Jesus Christus.
    Ein
düsteres Stilleben taucht auf, die Mutter kurz vor ihrem Tod, wie sie Nacht für
Nacht am hohen, erleuchteten Fenster über das zerstückelte Degerloch schaut,
die unschönen Dächer von Degerloch. Blutwolken über den Dächern von Degerloch.
Kalter Beton der achtziger Jahre. Ein harter Mond über den Neonleuchten.
Tankstellenluft. Kleingehäuseltes. Nachbarn erzählten, sie habe regungslos am
Fenster gestanden, ewig lang, wenn das Bild auftaucht, packt's mich. Unser
Vater war nämlich auch so ein entsetzlicher Fenstersteher gewesen, Hals tief im
Nacken versenkt, worttaub, womit er die Gastgeber verstörte. Im Haus einer
Freundin auf dem Killesberg, von deren Wohnzimmer aus man auf die Stadt
schauen konnte, stand er düsteren Sinnes, stand ewig lang da und war vom
Fenster nicht wegzukriegen, Stuttgart, Stadt der Hügel und Lichter,
Schattenstadt der zähen Schaffer, kein Zweifel, er war zu ernsthaften
Darbietungen in der Lage, während die ratlose Gesellschaft, nicht recht
wissend, wie über die Runde kommen, ihre mühsamen Gespräche mit scheuen
Blicken nach ihm hin über die Zeit schleppten. Bilder, die sich wie Säure ins
Hirn fressen von diesen einsamen elterlichen Fensterstehern, die mit
Fixerblicken an der Nacht hingen.
    Die
alkoholisierte Rauchkanaille, die unsere Mutter war. Rauchkanaille, das ist durchaus ehrenvoll gemeint. Denn etwas hatte sie:
sie hatte ihre Eigenheiten, und die lebte sie aus, unbekümmert darum, womit der
Rest der Welt sich gerade beschäftigte. Das Fernsehen war ihr gleichgültig. Sie
besaß nie ein Gerät, starrte nie in diesen Kasten, nicht einmal während der
Mondlandung. Sie fand es nicht einmal der Mühe wert, Fernsehen abzulehnen, sie
saß gleichgültig daneben, wenn ihre Freunde davon fasziniert waren, und rauchte
still vor sich hin. Das wichtigste Medium ihrer Zeit existierte für sie nicht,
nicht mal im Alter. Da beschränkte sie sich auf die Stuttgarter
Zeitung, führte den Hund ins Weidachtal, natürlich nicht
mehr den Dackel, der war ja längst tot, sondern einen großen, bedächtigen
Berner Sennenhund, mit dem ging sie ins Wirtshaus, rauchte, trank
Weißweinschorle, aß wenig und las Bücher. Außerdem schrieb sie recht gut;
pfiffig und flott im Ton sind die Briefe, die sich erhalten haben. Und dann
hatte

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