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Lewitscharoff, Sibylle

Lewitscharoff, Sibylle

Titel: Lewitscharoff, Sibylle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apostoloff
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sie diesen Fingertick. Ihre Hände waren die wichtigste Zutat zu ihrer
Person, sie legte sie bewußt hin oder setzte sie so in Szene, dass sie
unweigerlich auffielen. Lackierte, schlanke Finger, welche die Zigarette eine
Spur nachlässig, zugleich betont elegant hielten.
    Unsere
Mutter war Fingerphilosophin, sie leitete daraus ihre Menschenkenntnis ab. Die
Hände meiner Schwester waren zu zart, meine
schienen ihr irgendwie besser zu gefallen, obwohl sie sonst kein gutes Haar an
mir ließ, aber meine Hände waren in Ordnung. Jedenfalls
habe ich die stahlharten Nägel von ihr geerbt, meine Schwester hat weiche.
Unser Vater hatte musische und zugleich muskulöse Finger, gottlob
ohne Haare darauf, wie ich ergänzen möchte. Was bei diesem Fingertick zutiefst
komisch ist: außer zum dekorativen Herumliegen waren die Hände unserer Mutter
nicht recht zu gebrauchen, zumindest nicht für feinere Arbeiten. Die Finger
unserer Mutter wurden nervös, wenn es darum ging, mit einem Fadenende nach
einem Nadelöhr zu zielen.
    Und
bewimmelt von diesen hypernervösen Fingern, während Reiskörner von den
Stirnlappen rieseln und die Flämmchen im Hintergrund immer spärlicher flackern,
stellt sich allmählich Schlaf ein.
    Trotz
des warmen Wetters, das sich durch die offenen Fenster ankündigt, erwache ich
in schneeköniglichen Freuden. Der Kopf ist leicht. Ein euphorisierendes
Schwebgas hat ihn gefüllt. Der Übermut lässt ihn höher und immer höher aus dem
Nacken herauswachsen. Solange der Kopf ein Schmerzkopf ist, steckt er gepresst
in berstenwollender Schale. Jetzt ist überall Platz und Luft, für ihn, für Arme
und Beine, Luft, Luft, Luft. Die plötzliche Freiheit von Schmerz lässt den
Körper in argloser Welterwartung aus dem Zimmer - nein, nicht gehen - wandeln.
Oh, es macht nichts, dass die Frühstücksecke schmierig aussieht. Fröhlich
schwirre ich vor meinen Mitfahrern durch die Tür, um ein Café zu suchen.
Draußen ist es weniger warm als gedacht.
    Noch
etwas ist anders. Wie ich meine Kameraden so rötlich überschämt vor mir am
Tisch sitzen sehe, hege ich einen gewissen Verdacht.
    Geht's
wieder?
    Ausgezeichnet.
    Jesus,
da bin ich aber froh, sagt meine Schwester und seufzt so inbrünstig, als hätte
Jesus gerade das Lazaruswunder an mir verübt. Das schlechte Gewissen hat sie
beflogen, ihre übliche Morgenruhe ist dahin, die schlanken Finger zwirbeln
einen Kaffeelöffel an der Luft herum. Als die zwei im Chor anfangen zu
sprechen, stocken und kichern, ist die Sache vollends klar.
    Rumen
erklärt nun salbungsvoll, dass wir heute den ganzen Tag lang dem Diktat meiner
Wünsche gehorchen müßten. Die Verlegenheit zwingt ihn, sich von einem
bürokratischen Sprachungetüm zum nächsten zu retten; er bekräftigt meine
Wunschdiktatur, ja, das Diktat meiner Wünsche will ihm obendrein auch noch
Befehl sein.
    Ich
lache frei heraus, was auf meine Verliebten eher verstörend wirkt, da sie sich
gar nicht vorstellen können, wie schnell ihre Tarnung aufgeflogen ist. Schön
ist meine Schwester. Ihr schmelzender Charme, der sich in den letzten Jahren
etwas versprödigt hatte, hält das Gesicht wieder glatt; rosig überhaucht beißt sie
in etwas, das für ein Croissant zu gummiartig und für einen Wecken zu weich ist
(wie ich gerade gemerkt habe, als ich in ein ähnlich ominöses Ding biss). Das
Unvermögen der bulgarischen Bäcker soll uns aber nicht die Heiterkeit rauben.
    Eure
Wunschdiktatorin denkt, wir sollten die Küste entlangfahren und schauen, wo
wir bleiben, sage ich.
    Gut,
sehr gut, sagt Rumen, wir fahren und schauen.
    Wie
recht du wieder mal hast, sagt meine Schwester, Varna bringt nichts. Schauen
wir zu, dass wir fahren.
    Eine
halbe Stunde später sind wir soweit. Meine Schwester bettelt geradezu darum,
ich möge mich doch auch mal nach vorne setzen und die Küste genießen, aber
nein, ich will nicht, jetzt will ich das auf keinen Fall mehr.
    Während
wir aus Varna hinausfahren, überdenke ich die neue Lage. Meine Schwester habe
ich lange nicht mehr verliebt gesehen. Sie gefällt mir in diesem flirrenden
Zustand. Und Rumen ist, wenn ich über die eigenen erotischen Idiosynkrasien
hinausblicke, keine schlechte Wahl.
    Meiner
Schwester ist diese Liebelei herzlich zu gönnen. Sie war längst fällig. Nur
bringt mich das in eine verzwickte Lage. Mich leise davonschleichen und die
beiden nicht weiter stören geht nicht. Erschrecken würden sie, wenn ich in
Burgas den Zug nehmen und nach Sofia fahren wollte. Sie würden das auf

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