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Lewitscharoff, Sibylle

Lewitscharoff, Sibylle

Titel: Lewitscharoff, Sibylle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apostoloff
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sagenhaften Unterwasserwelt des Meeres, von Leuchtfischen, die,
winzige Laternen vor die Köpfe gehängt, durch die nachtschwarzen Wässer zogen,
von schimmerndem Plankton, das einem, wenn man nachts im Meer schwamm, in
funkelnden Schleiern zwischen den Händen wegglitt. Von elektrisch geladenen
Fischen erzählte er, die in Höhlen lagen und furchtbare Schläge austeilen
konnten, oder von Medusen, die nur, wenn sie als Glipsch im Sand lagen, hässlich
waren, im Meer aber, o im Meer, waren sie schöner als Nixen und schieierten mit
unnachahmlicher Eleganz durch ihren Lebensraum.
    Ich
weiß nicht, ob unser Vater mit der Fauna des Schwarzen Meeres wirklich
vertraut war. Wohl eher nicht. Er übertrieb gern, wenn er in Fahrt war. So zum
Beispiel behauptete er steif und fest, dass nur die Fischer wahre Philosophen
seien. Wer nicht stundenlang aufs Meer starrte und beim Netzeflicken Geduld
lernte, war überhaupt kein Philosoph.
    Wie
mir naturgemäß erst später aufging, stand das in merkwürdigem Kontrast zu der
Tatsache, dass unser Vater außer Nietzsche und Schopenhauer wahrscheinlich
keine Philosophen gelesen hat. Vielleicht ein bisschen Platon in seinem
bulgarischen Gymnasium. Obwohl gerade der Philosoph, noch vor dem Poeten, in
höchsten Ehren bei ihm stand. Bevor ich das Wort schreiben konnte, wusste ich,
der Philosoph war der herrlichste Mensch, den es geben konnte. Er stand über
allen anderen, womöglich sogar haushoch über dem Vater. Als ich Jahre später
hörte, Hegel sei ein weltberühmter Philosoph gewesen, und zwar ein schwäbischer,
glaubte ich das nicht. Es fehlte ja Hegel das Meer. Wie hätte er da Philosoph
sein können.
    Degerloch
musste ein besonders langweiliger Ort sein, dachte ich manchmal nachts. Das bisschen
Hügel, der fade, kanalisierte Neckar, den man von uns aus nicht einmal sah,
keine Leuchtfische, kein Meer als Philosophenschule, keine Indianer, überhaupt
kein einziger Mann weit und breit, der einen gefährlichen Beruf ausübte.
    Papa,
hättest du gedacht, dass deine Küste eines Tages so hässlich aussehen würde?
    Von
weit her sieht's anders aus.
    Na,
das muss aber sehr weit entfernt sein. Von hoch oben ist das Schwarze Meer
womöglich nicht mehr als ein blauer Fleck. Im übrigen ist es weder blau noch
schwarz, sondern grau. Ein völlig unscheinbares, um nicht zu sagen ödes Meer.
Weder von seiner Schönheit noch von seiner Heimtücke ist im Moment etwas zu
spüren.
    Ich
wüßte gern, wie dem Vater Degerloch vorgekommen ist, damals. So öde, wie mir
das Schwarze Meer heute vorkommt?
    Weiß
nicht, sagt der Vater, zu lange her. Kümmert mich auch nicht.
    Vielleicht
leiden die Toten unter schlimmerem Gedächtnisschwund, als wir es tun.
Vielleicht sind sie so kraftlos, dass sie gar nichts herbeschwören können,
nicht einmal, was sie haßten oder liebten. Tote haben weniger Kraft als ein Knitterhäutlein.
Für Hass oder Liebe muss man ordentlich im Saft stehen.
    Gehaßt
haben wird unser Vater Degerloch nicht. Aber geliebt? Degerloch war nach dem
Krieg kaum zerstört, ein etwas schläfriger Vorort, der in zwei Teile zerfiel -
den reicheren Teil mit stattlichen Häusern Richtung Wald und einen
kleinbürgerlichen Teil jenseits der Epplestraße Richtung Sauerkrautfelder.
Dann wurde die Autobahn hereingezogen, der alte Dorf kern verstümmelt. Der
kleinbürgerliche Teil Degerlochs sah binnen weniger Jahre aus, wie all die
grauenhaft breiigen Filderorte aussehen, mit ihrer verkommenen Architektur, den
Straßenschneisen, dem verhäuselten Kleingrund mit Ziergehölz und Garage, der
Betonhütte als Mülltonnenversteck, in die zu Schmuckzwecken Kieselsteine
eingedrückt sind.
    Degerloch
hat sich vom Schlachthieb des Straßenbaus nie mehr erholt. Heute wäre es mir
eine Pein, müsste ich dort wohnen. Als der Vater noch lebte, sah es nicht so
schlimm aus.
    Oder?
War es damals schon schlimm?
    Der
Vater schweigt. Falls sein Auge noch offen steht, ist es aufs Meer gerichtet.
Vielleicht ist er inzwischen ein Schwabenfeind. Obwohl alles so traulich
zwischen ihm und den Schwaben anfing.
    Die
Hauptlegende von seiner glorreichen Ankunft im Schwabenland erzählt: als er
1943 nach Tübingen kam, um einen Kommilitonen zu besuchen, gab er seinen Wintermantel
am Bahnhof ab. Es war warm geworden, und der Mantel wog schwer. Als er
zurückkehrte, bat ihn der Bahnhofsvorsteher noch um einen Moment Geduld. Es
stellte sich heraus, seine Frau hatte sich inzwischen des Mantels angenommen,
einen Knopf festgenäht und eine

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