Lewitscharoff, Sibylle
Terrasse hinab,
schimpft aber weiter vor sich hin, was jetzt von weitem wie harrrrr,
harrrrr, unterbrochen von Zischlauten, klingt.
Jacke
und Handtasche hat sie vergessen. Darum muss ich mich kümmern, während Rumen
mit dem Wirt verhandelt, doch auch da Eskalation, von allen Seiten erregtes
Geschrei, ich zupfe Rumen am Jackett, um ihn zurückzuhalten, aber das reicht
nicht, ich muss ihn rückwärts zerren, was er sich nicht gefallen lassen will
(wie der Dackel, denke ich, knurrt und schnappt, wenn man ihn im Eifer des
Gefechts festhält), doch nun sind wir an der Treppe, und allein um das
Gleichgewicht zu wahren, muss Rumen sich umdrehen und ist damit der drohenden
Keilerei entzogen.
Nicht
wie die Sieger, aber auch nicht wie Geschlagene ziehen wir davon. Meine
Schwester ist schon eine ziemliche Strecke voraus, bergab, Richtung Meer. Wir
treffen sie entspannt an eine Mauer gelehnt. Sie schaut in den Himmel. Ein
dichter grauer Film hängt über Land und Meer.
Na,
sagt meine Schwester, geht's euch jetzt besser.
Sie
wendet den Kopf und sieht uns mit einem seltsamen Ausdruck an. So schauen Leute
aus, wenn sie gerade aus einer Ohnmacht erwacht sind, denke ich, obwohl ich
noch keinen Menschen aus einer Ohnmacht habe erwachen sehen. Diesem Ausdruck
haftet etwas Frisches und zugleich Entlegenes, aus geheimen Lichtquellen
Unterleuchtetes an. In so ein Gesicht hineinzufragen, was eigentlich los war,
ist gar nicht möglich.
Wollen
wir uns das innere Dorf vornehmen? Meine Schwester löst sich von der Mauer. Der
Erregungsherd ist vollständig gelöscht. Ich händige ihr Jacke und Tasche aus.
Herrje, sagt sie, das war wohl nötig, und fasst mich zutraulich am Arm.
Einmal
im Jahr darf ein Mensch explodieren. Rumen gefällt sich im Ton der
wissenschaftlichen Feststellung: Ich explodiere zweimal im Jahr.
Wer
wann wie wie oft explodiert, das ist ein schönes Thema, wir ziehen es nach
allen Seiten, während wir uns durch Nessebar schlängeln. Bald bricht die
Unterhaltung ab. Zu viele Touristen schieben sich durch die Gassen. Es ist
laut. Ohne Zweifel, die Häuser sind schön, oder vielmehr, sie waren es. Würde
man nur den hölzernen Teil oben betrachten, könnte man sich in den Anblick
verlieben. Auf dem Niveau aber, auf dem sich unsere Köpfe befinden, ist es ein
Alptraum.
Jedes
Erdgeschoß, jeder Keller ist in einen Souvenirshop umfunktioniert worden.
Früher waren das kühle Räume für die Waren mit vielleicht ein paar Bottichen
neben dem Eingang oder Wassertrögen, in denen glupschäugige Fische schwammen.
Heute quellen die Erdgeschosse über, quellen mit unsäglichem Ramsch zum Eingang
hinaus, übermannshoch ist das Zeug gestapelt; vor allem beschallt jeder
Ladenbesitzer in absolut irrsinniger Lautstärke die Straße. Eine Ohrhölle. Eine
Galle ist geplatzt und schüttet Lärm aus. Das hat mit den krachfreudigen
italienischen, brasilianischen, ägyptischen Zuständen nichts gemein. Nicht
einfach laut und kräftig pulsiert das Leben hier, es ist in einen Mahlstrom
geraten. Verzerrt, verschmettert, verwummert, verklirrt; Kreischladungen der
internationalen Hysterie werden auf die Straße gekippt, und kein Ausweichen
möglich. Ein träger, breiiger Strom von Menschen, Leuten mit meterbreiten
Gesäßen, hindert an der Flucht.
Bitte
sehr, die Kirchen, die Kunstschätze, das Kunstschöne -
Mit
zermürbten Ohren kann man nichts sehen. Stephanoskirche, Erzengelkirche, da
drüben, das scheint die Pantokratorkirche zu sein, berühmt ist sie, und
wahrscheinlich zu Recht, gewiss auch aufregend mit ihren schmalen, fast
flackernd schmalen Bändern im Wechsel von Ziegel- und Naturstein. Ich hätte mir
gern die eingelassenen Keramiknäpfe angeschaut, Keramiknäpfe klingt gut, von ihnen war in einem Reiseführer die Rede,
aber inzwischen bin ich derart verstört, dass ich nichts anschauen will und
nichts anschauen kann.
Dummerweise
haben wir Hunger. Wir landen etwas abseits in einem düsteren Raum. Mangelndes
Licht hat manchmal Vorteile, so kann man den Fraß nicht allzugenau studieren.
Rötlicher Matsch mit einer kräftigen Beimischung von Schmieröl. Wir kehren
Nessebar den Rücken und wandern auf der Meerseite Richtung Hotel.
Zum
Schwimmen ist es noch zu kalt. Nur hie und da der Kopf eines eisernen
Schwimmpioniers in der Ferne und sein verlassenes Badetuch im Sand. Mir scheint
der Zeitpunkt gekommen, da ich der Zweisamkeit nicht länger im Wege sein
sollte. Eine Ausrede von wegen zurücklaufen und mir Nessebar von unten
anschauen
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