Lexikon der Oeko-Irrtuemer
Versuch zumeist betäubt und noch während der Narkose eingeschläfert. In den achtziger Jahren führte der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie eine repäsentative Erhebung durch. Demnach müssen zirka sechs Prozent der Versuchstiere Schmerzen erleiden (Schweregrad »hoch« oder »sehr hoch«). Die Forscher argumentieren, daß bei diesen Versuchen der Schmerz zur Fragestellung gehöre (weil es sich beispielsweise um Eingriffe handelt, die auch beim Menschen ohne Narkose stattfinden müssen).
Die meisten Tests, die Ende der neunziger Jahre noch durchgeführt wurden, sind gesetzlich vorgeschrieben. Zwei Dutzend Richtlinien, Empfehlungen und Beschlüsse der Europäischen Union zu Bereichen wie Umweltschutz, Lebensmittelprüfung, Futterhandel oder Gefahrstoffe fordern Tierversuche. Acht deutsche Gesetze und Verordnungen regeln sie und weitere zwölf erklären sie nach heutigem Wissensstand für unumgänglich, obgleich Wissenschaftler am Sinngehalt vieler dieser Vorschriften zweifeln.
Die Polemik mancher Tierrechtsgruppen hat nicht nur falsche Vorstellungen über die Grausamkeit von Tierversuchen geweckt. Auch über die eingesetzten Tierarten wird - bewußt oder unbewußt - ein falsches Bild verbreitet. Auf Broschüren und Plakaten sind fast immer Hunde, Katzen und Affen abgebildet. Für dreiviertel der Versuche werden allerdings Ratten und Mäuse verwendet. Diese Tiere gelten jedoch bei vielen Menschen als Ungeziefer und eignen sich daher weniger für gefühlsbetonte Spendenaufrufe.
1995 gab es 1488 Versuche an Affen und Halbaffen gegenüber
1260898 an Ratten und Mäusen. 1 Seit 1992 wurde kein einziger Menschenaffe mehr in Deutschland eingesetzt. Unbestritten sind auch die kleinen Nager hoch entwickelte und empfindsame Säugetiere, die nicht gedankenlos benutzt werden sollten.
Die Labortierhaltung ist besonders bei großen Pharmakonzernen heute weitaus besser als in der Vergangenheit. Verhaltensforscher kritisieren schon lange, daß der frustrierende Alltag der Labortiere viel zu wenig beachtet wird. Oft sei die trostlose Unterbringung der Versuchstiere quälender als der Versuch. Firmen wie Roche, Novartis und Hoechst bauten für viele Millionen Mark neue Gehege und entwickelten Programme zur »verhaltensbezogenen Reizanreicherung«, wie die Maßnahmen gegen die Langeweile genannt werden. Die eintönigen Käfigbatterien in den Versuchstierabteilungen dieser Firmen wurden größtenteils entfernt, dafür sehen manche Tiergehege fast schon aus wie im Zoo. Schweine zum Beispiel leben dort wesentlich komfortabler als ihre Artgenossen in der Landwirtschaft.
1 Bundeslandwirtschaftsministerium, Tierschutzbericht der Bundesregierung, 1997.
»Für Tierversuche werden Hunde und Katzen gestohlen«
Angeblich schleichen Hunde- und Katzenfänger im Auftrag von Versuchslabors durch Wohngebiete und schnappen jeden Vierbeiner, der sich unvorsichtigerweise zu weit von seinem Herrchen oder Frauchen entfernt hat. Mit dieser Legende locken unseriöse Tierschützer arglosen Tierfreunden überaus erfolgreich das Spendengeld aus der Tasche. Es kursiert die abenteuerliche Zahl von über 200000 Katzen und 100000 Hunden, die von den heimtückischen Fängern der Pharmaindustrie geklaut würden. Diese Angaben entbehren jeder statistischen Grundlage.
Die Münchener Polizei machte ganz andere Erfahrungen. In den achtziger Jahren registrierten die Beamten in Zusammenarbeit mit dem städtischen Veterinäramt und dem Tierheim herrenlos aufgefundene und vermißt gemeldete Tiere. Ergebnis: Man erfaßte einen großen Überschuß an Haustieren, die niemand vermißte. Die Erkenntnisse der Polizei ergaben keinen Anhaltspunkt für organisierten Tierdiebstahl. 1
Ohnehin könnten Wissenschaftler mit Nachbars Lumpi wenig anfangen. Sie benötigen rundum gesunde und gut vergleichbare Tiere und keine bunte Mischung aus verschiedenen Rassen und Altersklassen.
1 G. Küsters, Gesundheit für Mensch und Tier, 1993.
»Tierversuche sind überflüssig«
Ein völliger Verzicht auf Tierversuche würde vermutlich lang ersehnte medizinische Fortschritte bremsen oder gar verhindern. Versuchstiere werden (zumindest in Deutschland) heute kaum mehr leichtfertig eingesetzt. Der geistige Wandel der Gesellschaft hat auch die Wissenschaftler erfaßt. Jüngere Forscher gehen wesentlich bewußter mit dem moralischen Dilemma der Tierversuche um, als frühere Generationen. Dennoch hält die große Mehrheit der Humanmediziner, Veterinäre,
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