Lexikon der Oeko-Irrtuemer
allerdings auch für Mutter Naturs Chemielabor. Die Natur hat teilweise die gleichen bedenklichen Stoffe auf Lager, und manchmal verzehren wir diese sogar in sehr viel größeren Mengen. Pflanzen produzieren Gifte als Abwehrstoffe gegen Pilze und Fraßräuber. Andere natürliche Substanzen dienen ihnen als Wachstumsregulatoren, Färb- und Ballaststoffe. »Die Gleichsetzung von natürlich = gesund‹ und ›künstlich-chemisch = gefährlich‹ läßt außer acht, daß auch Tiere und Pflanzen aus chemischen Substanzen bestehen und eine Fülle von Giften herstellen, die durchaus an die Toxizität synthetischer Gifte heranreichen und diese manchmal sogar weit übertreffen«, schreibt der Lübecker Toxikologe Otfried Strubelt.
Man schätzt, daß alleine die sogenannten sekundären Pflanzenstoffe mehr als eine Million verschiedener Verbindungen umfassen. Darunter sind auch etwa 1500 chlororganische Verbindungen (vom Menschen geschaffene giftige Substanzen wie die polychlorierten Biphenyle [PCBs], Dioxine und Furane gehören zur gleichen Stoffgruppe). 3 Nach heutigem Kenntnisstand gehen die Wissenschaftler allerdings davon aus, daß sich natürliche Gifte weniger dauerhaft im Körper oder in der Umwelt ablagern als synthetische und deshalb ein geringeres Problem darstellen. Sie sind besser biologisch abbaubar.
Naturstoffe werden jedoch sehr viel seltener systematisch hinsichtlich ihres Umweltverhaltens untersucht als synthetische Substanzen. Das hat einen einfachen Grund: Menschengemachte Pestizide müssen sich vor ihrer Zulassung aufwendigen Krebsrisiko-Studien unterziehen, natürliche Gifte aber kann man weder zulassen noch verbieten. Werden solche Nachforschungen jedoch angestellt, dann lauern meist faustdicke Überraschungen. Die amerikanischen Wissenschaftler Bruce N. Arnes und Louis L. Gold testeten eine Reihe von natürlichen Stoffen an Nagetieren und gingen der Frage nach, ob diese Krebs auslösen können. 4 Ergebnis: 27 von 52 pflanzlichen Abwehrstoffen wirkten karzinogen.
Im folgenden eine Liste von Nahrungsmitteln, in denen diese Stoffe vorkommen: Ananas, Anis, Apfel, Aubergine, Banane, Basilikum, Birne, Blumenkohl, Brokkoli, Endiviensalat, Erdbeere, Estragon, Fenchel, Gewürznelke, Grapefruit, Himbeere, Honigmelone, Kaffee, Kakao, Karotte, Kirsche, Kopfsalat, Kümmel, Mango, Meerrettich, Muskatnuß, Orange, Pastinak, Petersilie, Pfeffer, Pfirsich, Pflaume, Pilze, Rettich, Rosenkohl, Rosmarin, Salbei, Sellerie, Senf, Sesamsamen, Thymian, Weintraube, weiße Rübe, Weißkohl, Zimt, Zuckermelone, Zwetschge.
Ein US-Bürger nimmt täglich 1,5 Gramm natürliche Pestizide mit der Nahrung zu sich. Das ist 10000mal mehr als das Gesetz bei synthetischen Pestiziden erlaubt. 5 Bruce Arnes, ein vielfach ausgezeichneter Biomediziner, veranschaulicht dies am Beispiel einer Tasse Kaffee: Über 1000 chemische Verbindungen haben die Forscher bisher in diesem Naturprodukt entdeckt. Nur 26 von ihnen wurden seither im Tierversuch getestet - und mehr als die Hälfte davon löste bei den Versuchstieren Krebs aus. Mit einer einzigen Tasse Kaffee, so erklärt der Biomediziner, nehmen wir mehr Karzinogene auf als die Summe aller im Verlauf eines Jahres mitverzehrten synthetischen Pestizide. 6 Dennoch dürfen wir wohl weiterhin Kaffee trinken. (Siehe »Was heißt eigentlich ›krebsverdächtig‹?«, Seite 94.)
99,99 Prozent (!) aller Pestizide, die wir zu uns nehmen, sind laut Bruce Arnes natürliche Bestandteile von Pflanzen, mit denen diese Schädlinge abwehren. Der menschliche Körper habe dafür gut entwickelte Abwehr- und Reparaturmechanismen, die keinen Unterschied zwischen synthetischen und natürlichen Pestiziden machen. Der Homo sapiens kommt also seit Adam und Eva mit einer großen Anzahl von im Tierversuch krebserregenden Stoffen in Berührung, allerdings liest er erst seit etwa 30 Jahren davon in der Zeitung.
Grundsätzlich gilt: Die chemischen Inhaltsstoffe von Pflanzen haben genau wie die synthetisch hergestellten Chemikalien positive und negative Wirkungen: Es kommt wie immer auf die Dosierung an. Hierauf sind letztendlich widersprüchliche Meldungen zurückzuführen, nach denen der Verzehr von ein und demselben Gemüse krebshemmend oder krebsfördernd sein kann. Das in Pflanzen vorkommende Indol-3-Carbinol beispielsweise gilt Medizinern in den üblichen Konzentrationen als Anti-Krebs-Wirkstoff, wird bei den Tierversuchen mit hohen Dosierungen aber als krebserregend eingestuft. 7
Bruce Arnes läßt sich davon nicht
Weitere Kostenlose Bücher