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Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)

Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)

Titel: Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz
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UV-B-Spektrum kaum Schutz bieten und zudem im Inneren der Blätter gebildet werden – das ist etwa so sinnvoll, als würde man Sonnenmilch trinken, anstatt sich damit einzucremen. Ebenfalls in den 1980er Jahren tauchte die mittlerweile zu den Akten gelegte Vermutung auf, dass die Bäume im Herbst noch schnell Schadstoffe in die Blätter auslagern, um sie loszuwerden, eine Art Müllabfuhr also.
    In den letzten Jahrzehnten gelang es durch verbesserte Messmethoden, mehr über die Blattverfärbung herauszufinden. Die alte Lichtschutzthese wurde in den 1990er Jahren wiederbelebt, als der Tropenbotaniker David Lee und der Physiologe Kevin Gould belegen konnten, dass rot pigmentierte Blätter besser mit sehr starker und schwankender Lichteinstrahlung zurechtkommen als grüne. Photosynthese nämlich funktioniert dann am besten, wenn es gleichmäßig hell ist und sich der Photosyntheseapparat an genau diese Lichtbedingungen anpassen kann. Mehrere Studien belegten in den nächsten Jahren, dass ältere Blätter anfälliger für eine Hemmung der Photosynthese durch zu viel Licht sind als jüngere. Vielleicht brauchen sie deshalb in ihren letzten Lebenstagen besonderen Schutz, den die Anthocyane liefern.
    Aber Anthocyane können noch mehr: Füttert man Mäuse mit Heidelbeeren oder Menschen mit Rotwein – beides schön bunte Lebensmittel mit hohem Anthocyangehalt –, dann werden zwar nur die Menschen betrunken, aber im Blut von Mann und Maus steigt der Gehalt von Antioxidantien, die freie Radikale binden. Freie Radikale sind Atome oder Moleküle, die eins ihrer Elektronen verloren haben oder einfach nur gern eins mehr hätten als bisher und deshalb aggressiv ein neues Elektron an sich reißen wollen – aus der DNA, den Zellmembranen oder irgendwelchen wichtigen Proteinen. Es ist sinnvoll, sie daran zu hindern, denn solche Schäden können unter anderem zu Krebs führen. Um zu untersuchen, ob diese Funktion auch den Blättern lebender Pflanzen zugute kommt, piekte Kevin Gould mit seinen Studenten Löcher in rote und grüne Blätter einer neuseeländischen Pflanze. Die freien Radikale, die an den verletzten Stellen entstehen, verschwinden in roten Blättern sehr viel schneller wieder als in grünen. Aber wie schützen die Anthocyane die Pflanze vor Schäden? «Das ist ein ziemlich rätselhaftes Phänomen», geben Lee und Gould zu, denn die Anthocyane stecken größtenteils in den Zellvakuolen – großen, mit Flüssigkeit gefüllten Blasen –, während die freien Radikale ihr Werk ganz woanders im Blatt verrichten.
    Verschiedene Schutzfunktionen der Anthocyane sind jedenfalls mittlerweile gut belegt, wenn auch nicht ganz so gut erklärt. Trotzdem bleibt offen, warum Bäume so viel Energie in den Schutz von Blättern investieren, die ohnehin demnächst abfallen. Wozu mühsam ein Auto umlackieren, das nur noch drei Tage TÜV hat? Vielleicht sorgen die Anthocyane für eine koordinierte Zerlegung und Einlagerung des komplexen Photosyntheselabors. Vielleicht geht es aber auch um die Rückgewinnung des in diesen Photosynthesegerätschaften gebundenen Stickstoffs, der sonst einfach vom Baum fallen würde; Pflanzen trennen sich aber vom mühsam erwirtschafteten Stickstoff ähnlich ungern wie Menschen von Geld.
    Ein anderes Erklärungsmodell stammt von dem amerikanischen Biologen Frank Frey, der 2005 Salatsamen mit Extrakten aus gelben, grünen und roten Blättern übergoss: Mit dem Extrakt aus roten Ahornblättern behandelte Samen keimten und wuchsen deutlich schlechter. Bäume mit besonders anthocyanreichem Herbstlaub, so Freys Hypothese, vergiften den Boden für andere Arten, wenn die Anthocyane aus dem Laub ins Erdreich wandern. Vom Walnussbaum, der Kastanie, dem Apfelbaum und der Kiefer ist bekannt, dass sie die Konkurrenz mit ähnlich unfairen Techniken unterdrücken.
    Ausgehend von einer Idee des Evolutionstheoretikers William D. Hamilton, entwickelten die Biologen Archetti und Brown seit 2000 die «Signaltheorie» des Herbstlaubs, nach der gesunde, widerstandsfähige Bäume besonders auffällige Herbstfarben anlegen. So teilen sie Schädlingen, insbesondere Blattläusen, mit, dass sie sich teure Farben leisten können und daher auch bei der Verteidigung nicht sparen werden – denjenigen Menschen nicht unähnlich, die durch ihre Hautfarbe zu erkennen geben, dass sie immerhin genug Geld fürs Solarium haben. Kluge Blattläuse lassen sich dann den Winter über in weniger resistenten Bäumen nieder. Die Signaltheorie beruht bisher

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