Liberator
Stroh bedeckt war, das außen von einem niedrigen Drahtgitter gehalten wurde. Aus dem Stroh guckten die runden Enden zweier riesiger Glaskolben hervor, die gespenstisch hell glühten.
»Wenn wir uns da raufschleichen …«, flüsterte Riff.
»… und im Stroh verstecken könnten«, ergänzte Col.
»… als Fahrgäste«, beendete Jarvey den Gedanken.
Col schnalzte mit der Zunge.
»Wir müssen näher rankommen.«
»Ich kann helfen«, gab Mr. Gibber wieder von sich.
Bevor auch nur irgendjemand begriff, was er vorhatte, war er unter dem Gerüst hervorgekommen und kroch nun geradewegs auf die Zugmaschine zu. Wie er so mit dem einen heilen Arm und dem einen heilen Bein eilig vorwärtsrobbte, sah er aus wie eine Kreatur aus den morastigen Tiefen der Erde. Bei jeder Bewegung stöhnte er vor Schmerz.
Der Fahrer verlangsamte sein Tempo und schrie ihm etwas zu. Mr. Gibber brüllte zurück und kroch weiter, bis er unmittelbar vor den Rädern des Fahrzeugs haltmachte. Erst in letzter Minute wich ihm der Fahrer aus und lenkte die Maschine in Richtung Plankenweg.
»Ja«, zischte Col, »er hat es geschafft!«
»Los, macht euch bereit«, befahl Riff, als die Lokomobile an ihnen vorbeifuhr.
Die Seite des Tiefladers war jetzt nur ein paar Meter von ihnen entfernt. Sie schlängelten sich durch den Unterbau des Plankenwegs und sprangen an das Drahtgitter über den sich langsam drehenden Rädern.
Für den Bruchteil einer Sekunde hätte man sie wahrscheinlich sehen können, aber es war niemand in der Nähe. Sie kletterten über das Gitter, sprangen direkt ins Stroh und waren auch schon verschwunden. »Danke, Mr. Gibber«, murmelte Col.
74
Col rollte sich herum. Ein fremdes Bein lag auf seiner Schulter, und ein Kopf drückte gegen sein Knie. Das Stroh war erstaunlich kalt, und die Kälte schien von den zwei riesigen Glaskolben zu kommen. Er fasste durch das Stroh an einen von ihnen. Er war kalt wie Eis. Col schob das Stroh zur Seite, um besser sehen zu können: Die Helligkeit hinter dem Glas war überwältigend. Und jetzt konnte er auch erkennen, was sich in den Kolben befand – es waren Lichbälle, die eng nebeneinander lagen und in einer durchsichtigen Flüssigkeit schwammen.
»Ich hab’s«, flüsterte Riff. »Das müssen die Lichtbomben sein, die sie aus den Messingrohren abschießen.« Es war ihr Kopf, der gegen Cols Knie drückte.
Der Tieflader rollte langsam etwa fünfzig Meter weiter; doch dann wurde ihre Hoffnung, den Turm zu erreichen, enttäuscht, denn die Lokomobile bog jetzt in einer ganz langsamen Drehung nach rechts ab.
»Wir bewegen uns weg vom Kommandoturm«, murmelte Riff.
»Aber wohin?«, fragte Col.
»Was machen wir denn, wenn wir anhalten?«, fragte Jarvey. Es war sein Bein, das auf Cols Schulter lastete. Im Augenblick konnten sie nur warten. Col schob Jarveys Bein beiseite, hütete sich jedoch, sein Knie unter Riffs Kopf wegzuziehen.
Nach einer Weile gab die Maschine ein paar zischende Dampfstöße von sich und wurde noch langsamer. Col hob seinen Kopf ein wenig aus dem Stroh, um zu sehen, wohin die Fahrt ging. Und natürlich – sie hielten genau auf eines der großen Messingrohre zu, aus denen die Lichtbomben geschossen wurden. Sie lieferten also gerade Nachschub.
Schnell duckte er seinen Kopf wieder, als er merkte, dass überall Soldaten standen. Er gab die Neuigkeiten an Riff und Jarvey weiter, die ihrerseits Dunga und Cree informierten, die sich auf der anderen Seite des Wagens im Stroh verbargen.
»Jetzt sind wir wenigstens näher am Turm dran«, flüsterte Jarvey.
»Aber nicht nahe genug«, gab Riff zurück.
Der Tieflader hielt endgültig an. Col hörte das Scheppern von Waffen und das Knarren von Stiefeln. Die Soldaten standen direkt neben ihnen. Col griff nach seinem Degen. Er hatte allerdings nicht gemerkt, dass die Spitze der Klinge aus dem Stroh ragte. Sie musste im Sonnenlicht gefunkelt habe, denn sofort ertönte ein überraschter Ausruf:
»Qu’est-ce que c’est?«
Ein Gewehrlauf wurde durch das Drahtgitter ins Stroh gesteckt und stocherte darin herum. Col fühlte, wie Riff erstarrte. Sie versuchte, nicht aufzustöhnen, als das kalte Eisen der Waffe ihr ins Fleisch fuhr. Im nächsten Augenblick erging es Col genauso. Noch ein zweiter Gewehrlauf war dazu gekommen, der in seine Wade drückte. Obgleich niemand einen Mucks von sich gab, schienen die Soldaten allmählich zu der Überzeugung zu gelangen, dass sich jemand im Stroh versteckte, denn sie stocherten weiter.
So war also
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