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Liberator

Liberator

Titel: Liberator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harland
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hinter sich gelassen. Endlich konnte er wieder schneller robben. Und schon bald schob er den Jutebeutel vor sich aus dem Rohr, steckte seinen Kopf hinaus und sog die wunderbare frische saubere Luft in seine Lunge. Er hätte sich gerne einige Minuten erholt, aber das Sträflingslager lag direkt vor ihm, und er hatte eine Aufgabe zu erfüllen.
    Er trat aus dem Schatten des Deichs. Der Himmel war noch heller geworden, der Sonnenaufgang stand kurz bevor. Als er über seine rechte Schulter blickte, sah er auf dem Deich eine lange Reihe von Soldaten, die sich bis zur Residenz hinzog. Sie knieten mit ihren Gewehren im Anschlag und schossen auf die eingekesselten Dreckigen unter ihnen. Es waren sicherlich an die hundert Soldaten.
    Col hoffte, dass sie sich weiter auf die Dreckigen konzentrierten. Er raste los über das freie Feld. Vor ihm drängten sich die Sträflinge an dem Stacheldrahtzaun, der sie einsperrte. Sie rüttelten daran und drohten mit den Fäusten, sie fluchten und schrien und brüllten. Es war ein hässliches brutales und bedrohliches Geräusch.
    Die ersten von ihnen hatten Col bemerkt. Sie begannen ihn anzuschreien und machten noch mehr Lärm.
    Kurz vor dem Zaun kam er zum Halt, riss sich den Jutebeutel von der Schulter und suchte in ihm herum: Kneifzange … Rohrzange … Klammern. Er griff sich die Kneifzange und besah sich den Zaun. Er war etwa fünf Meter hoch, oben mit Stacheldraht bewehrt. Er fragte sich, ob die Kneifzange den dicken Draht überhaupt aufschneiden konnte.
    Jetzt blickten alle Sträflinge auf ihn. Ihre Gesichter waren von wilder Leidenschaft erfüllt, als sie immer stärker gegen den Zaun drückten, der sich nun schon ausbeulte. Da hatte Col eine neue, eine bessere Idee.
    Die Zaunpfosten wurden auf der Außenseite von Querstreben gestützt, die wiederum an in die Erde eingelassenen Eisenplatten befestigt waren. Jetzt, wo das Gewicht so vieler Leiber gegen den Zaun drückte, hielt er nur noch dank dieser Streben. Und die Streben waren mit Bolzen an den Platten befestigt, die durch Schraubmuttern gesichert waren.
    Col ließ die Kneifzange fallen und griff nach der Rohrzange. Er rannte zur nächsten Platte, kniete nieder und passte die Rohrzange der Größe der Muttern an. Er hatte den Sträflingen den Rücken zugekehrt, damit er durch ihr Lärmen nicht abgelenkt wurde.
    Es gab drei Muttern, und Col löste die ersten zwei. Er merkte, wie die Strebe sich unter dem Druck des Zauns dahinter immer mehr bog. Als er zur letzten Drehung der letzten Mutter anhob, sprang sie aus ihrer Fassung, und die Rohrzange flog ihm aus der Hand. Er konnte sich gerade noch in Sicherheit bringen, bevor ein ganzer Abschnitt des Zauns umkippte. Und schon strömten die Sträflinge hervor und trampelten den Zaun vollends nieder. Männer und Frauen, alte und junge, alle in braunes Sackleinen gekleidet, mit Nummern auf ihren Rücken. Jauchzend, brüllend und fluchend rasten sie auf einer Lärmwelle heran.
    21
    Massen von Körpern warfen Col zu Boden. Er krümmte sich zusammen wie ein Ball, schützte seinen Kopf mit den Armen und wartete darauf, dass die Stampede ein Ende nahm. Er bekam nicht mit, wie die Soldaten der Imperialisten die neue Gefahr entdeckten, bekam nicht mit, wie sie zu schießen begannen. Das einzige, was er hörte, war chaotisches Schreien und Brüllen.
    Als er endlich wieder auf den Beinen stand, konnte er sehen, dass sich unzählige dunkle Gestalten oben auf dem Deich in einem riesigen Handgemenge befanden. Also hatten die Soldaten die Sträflinge mit ihren Waffen nicht aufhalten können! Col hatte nicht nur eine neue Front eröffnet, er hatte Raserei und Gewalt entfesselt.
    Er stand da und sah zu, wie ein unbeteiligter Beobachter. Die Gestalten hoben sich jetzt deutlich vom rosa leuchtenden Morgenhimmel ab, die Sonne war endlich aufgegangen. Nach einer Weile startete die nächste Angriffswelle. Die Soldaten auf dem Deich waren entweder erschlagen worden oder hatten sich zurückgezogen. Nun stürmten die Sträflinge auf die Residenz zu.
    Er hoffte, dass die Dreckigen die Situation schnell erfassten und ihre Chance nutzten, um die Imperialisten, die sicher nicht wussten, was eigentlich geschah, anzugreifen. Dunga jedenfalls würde wissen, was geschehen war. Wenn … Wenn sie noch am Leben war.
    Col machte sich auf den Weg zum Deich. Alles war so schnell gegangen. Das Sträflingslager lag verlassen da, der Kampf auf dem Deich war entschieden. Er musste nicht wieder durch das Rohr kriechen. Als er den

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