Liberator
Deich hinanstieg, nahm er schwach einen neuen Geruch wahr. Rauch? Von oben sah er Massen von Sträflingen, die zu Füßen der Marmortreppe standen, während Offiziere und Soldaten von der Dachterrasse und den oberen Veranden auf sie schossen. Aus den unteren Fenstern und dem Eingangstor der Residenz quoll Rauch. Offenbar hatten Sträflinge die unteren Räume gestürmt und Feuer gelegt.
Auf der anderen Seite, der Kasernenseite, zeigte sich eine Szenerie von Tod und Verwüstung. Col trat über die Schienen der Lorenbahn auf die andere Deichseite und sah genauer hin. Die Dreckigen hatten die Chance zum Angriff genutzt. Sie hatten die Bohlen fortgeworfen und die Soldaten auf dem Magazingelände angegriffen. Einige der Soldaten hatten sich hinter die rostigen Stapel zurückgezogen. Andere hatten die Flucht ergriffen und rannten nun davon.
Aber das war es nicht, was Cols Herzen einen Stoß versetzte. Der morastige Boden war von elenden zusammengesunkenen Körpern übersät. Die fast horizontalen Strahlen der Sonne beschienen gnadenlos alle Gestalten auf dem flachen Feld bis hin zum Deich und bewirkten, dass sie lange Todesschatten warfen. Col mochte nicht zählen, wie viele tote Dreckige da lagen. Er schätzte aber, dass es mindestens ein Drittel der Angriffstruppe war. So wenig Blutvergießen wie möglich, dachte er bitter. Die Imperialisten hatten sie abgeschossen wie die Fliegen.
Col hielt Ausschau nach Dunga. Die Bohlen ihres Unterstands lagen jetzt flach auf der Erde, dazwischen zwei bewegungslose Dreckige. Selbst aus dieser Entfernung erkannte er Dungas streichholzkurzes Haar. War sie tot?
Er rutschte den Deich hinunter und lief zu ihr. Sie lag zusammengekrümmt auf der Seite inmitten einer Blutlache. Aber sie war offenbar nicht tot, denn als er näher an sie herantrat, hörte er, dass sie vor sich hin brabbelte.
Er hatte einen Kloß im Hals, als er sich zu ihr niederbeugte. »Bist du okay?«
Sie brabbelte weiter: »Wer hat das getan? Wer hat das getan?«
»Hat was getan?«
Sie erkannte Col nicht, und vermutlich verstand sie seine Frage auch nicht. Ihre nächsten Worte beantworteten seine Frage aber von selbst. »Jemand hat uns betrogen … Pläne verraten … unseren Angriff …« Ihre Stimme erlosch, und sie verlor das Bewusstsein.
Col untersuchte ihre Wunde. Sie war mit Schlamm bedeckt, und noch immer sickerte Blut hervor. Es hatte keinen Sinn, die Wunde zu reinigen, denn der Schlamm hielt die Blutung zumindest ein wenig zurück. Er zog seinen Pullover und sein Hemd aus, riss einen Hemdsärmel ab, drehte ihn zu einem Strick und zog ihn um das Bein oberhalb der Wunde. Jetzt brauchte er noch etwas, mit dem er diesen Strick fester zurren konnte, um die Wunde abzubinden. Er fand auch gleich die Lösung an Dunga selbst, denn sie trug einen der spitzen Eisenstifte, die die Dreckigen früher als Waffen genutzt hatten, um den Hals. Er steckte den Stift durch den Knoten des Verbandes und fing an, ihn zu knebeln.
Dann setzte er sich neben Dunga in den Matsch und hielt den Eisenstift in Position.
»Ich habe die Sträflinge befreit«, sagte er zu ihr, »genau wie wir es geplant hatten.«
Aber Dunga konnte es nicht mehr hören. Col schaute weg und merkte, dass sich das Licht verändert hatte. Der Himmel war voller Rauch, nur ein paar gespenstische Sonnenstrahlen fanden ihren Weg zur Erde. Er drehte sich um zur Residenz. Jetzt stand das gesamte Gebäude in Flammen. Gerade krachte eine der Veranden zu Boden, und ein Teil des Daches stürzte ein. Offiziere bahnten sich ihren Weg aus dem Eingangstor, hustend und schwankend standen sie für einen Moment da. Die Sträflinge lauerten zwar nicht mehr an den Marmorstufen, aber sie warteten im Schlamm. Als sie die Offiziere erblickten, brachen sie in blutrünstiges Gebrüll aus und stürzten hinter den fliehenden Männern her. Die Offiziere hatten nicht den Hauch einer Chance.
So viele Tote, dachte Col, für nichts und wieder nichts. Nur weil die Imperialisten sich geweigert haben, mit den Dreckigen Handel zu treiben. Eine melancholische Stimmung erfasste ihn. Es hätte eine andere Lösung geben müssen. Er wusste zwar keine, aber es hätte eine geben müssen.
Col merkte nicht, wie die Zeit verging. In regelmäßigen Abständen lockerte er Dungas Verband für ein bis zwei Minuten, dann zog er ihn wieder fest. Sie schien nun etwas ruhiger geworden zu sein. Es wirkte, als schliefe sie. Col fühlte sich auch müde. Er sackte nach vorne und schloss für einen Moment die
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