Liberty: Roman
er. »Ich bin gerade drin gewesen.«
»Tja, dann waren Sie ganz schön schnell«, erwidert sie. »Mussten Sie auch pinkeln?« Sie spielt auf Zeit – hofft, dass irgendetwas passiert und sie mich nicht finden. Ich hebe die Arme und bekomme die Oberkante der Mauer zu fassen. Der Duschraum hat keine Decke, und die Wände sind lediglich knapp zwei Meter hoch. Wenn ich auf der Toilettenbrille stehe, kann ich den Rand gut erreichen. Die Frage ist, ob ich mich selbst hochziehen kann. Die Arme zittern etwas. Beruhig dich. Ich müsste es können – es gibt eine Chance.
»Werd nicht frech«, sagt der Lehrer draußen.
»Ich bin nicht frech«, erwidert Samantha.
»Du bist aus der Dusche gekommen, das habe ich genau gesehen.«
»Ich habe in den Abfluss gepinkelt«, behauptet Samantha. »So, aber jetzt muss ich ins Bett.«
»Du bleibst hier«, befiehlt der Lehrer, seine Schritte kommen näher, der Tanz des Lichtkegels unter der Türspalte wird stärker. Es hat etwas Unwirkliches. Jetzt redet Samantha in Swahili auf den Wachmann ein: »Der kranke weiße Mann hat große Lust auf mich.« Der Wachmann erwidert nichts. Der Lichtkegel verschwindet.
»Was sagst du da?«, fragt der Lehrer – ich höre, dass er sich umgedreht hat. Ich spanne die Muskeln an, das Zittern in den Armen verschwindet. Ich ziehe mich hoch, und es gelingt mir, einen Fuß auf die Wand über der Tür zu setzen, den anderen auf den Rand der Wand.
»Ich rede Swahili mit dem Wachmann. Wir sind hier in Tansania. Können Sie die Landessprache nicht?«, fragt Samantha.
»Pass auf«, sagt der Lehrer und stößt die Tür zur Nachbartoilette auf. Ich schiebe den Fuß über die Kante zum Duschraum und helfe mit den Beinen nach, um mich selbst über die Wand zu ziehen, lasse den oberen Rand der Wand mit einer Hand los und bekomme einen Dachsparren zu fassen, den ich im Licht der Taschenlampe gerade noch erkennen kann. Ich ziehe mich hoch, bis ich auf der Wand sitze; und gerade, als ich das Bein hebe, das noch im Toilettenraum hängt, wird die Tür geöffnet, und der Lichtkegel scheint direkt unter mir auf die Stelle, an der ich noch vor einem Augenblick gestanden habe. Ich halte die Luft an. Er dreht die Taschenlampe hektisch nach oben, und der Lichtkegel nähert sich … läuft aber an mir vorbei. Er hat nicht hochgesehen. Ich ziehe den anderen Fuß hoch. Er muss bereits den Kopf abgewendet haben. Das Licht fällt in den Duschraum. Einer meiner Füße scharrt über den Mauerrand.
»Was?« Der Lehrer dreht sich um – der Lichtkegel tanzt.
»Keine Ahnung«, sagt Samantha – jetzt kommt die Stimme von der Tür zur Dusche. Sie hat mitgedacht und die Tür der Nachbartoilette geschlossen. Ich fasse mit beiden Händen an die Dachsparre, ziehe mich hoch, bis mein Körper sich fast lautlos vom oberen Rand der Wand löst, und lasse mich langsam herunter, bis ich auf dem Boden der Toilette lande. Der Lehrer richtet den Lichtkegel zwischen die Dachsparren des Duschraums. Ich schleiche mich aus der halb geöffneten Toilettentür und aus dem Gebäude, an dem Wachmann vorbei in die Dunkelheit. Laufe um das Gebäude. Bleibe stehen, um Atem zu holen. Meine Beine zittern. Ich schwitze am ganzen Körper. Was soll ich machen? Samantha bekommt jetzt Probleme. Aber … was kann der Lehrer schon beweisen? Dass sie in der Dusche war? Na und? Mir wird es schlagartig klar.
»Samantha!«, rufe ich. »Was ist los?«
»Darf ich jetzt gehen?«, fragt Samantha. »Mein Freund ruft mich.«
»Du bleibst hier«, sagt der Lehrer und kommt in dem Moment aus der Tür, als ich um die Ecke biege. Es ist dieser Franzose, Voeckler.
»Wo bleibst du denn?«
»Na ja, ich darf nicht gehen«, sagt sie.
»Warum nicht? Was ist los?«
»Werd nicht frech«, sagt Voeckler zu mir.
»Frech? Ich muss nach Hause, ich will Samantha nur Auf Wiedersehen sagen.«
»Ihr habt … etwas Ungehöriges getrieben«, behauptet Voeckler.
»Ja, worauf du dich verlassen kannst«, erwidert Samantha. Wieso hält sie nicht einfach die Klappe? Ich lache angestrengt. Voeckler tritt dicht an mich heran.
»Du riechst nach Rauch«, sagt er.
»Ich bin Raucher.«
»Du hast keine Erlaubnis«, sagt er.
»Doch, die hab ich.«
»Du verlässt jetzt sofort das Schulgelände.«
»Warum?«
»Weil ich es sage – sonst kannst du dich morgen früh im Büro melden.« Voeckler wendet sich wieder an Samantha. »Und du kommst mit«, sagt er und fasst nach ihrem Oberarm.
»Fass mich nicht an!«, zischt Samantha und versucht, ihren Arm
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