Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
Vom Netzwerk:
wie sich herausstellte, nicht dir, sondern einem anderen gehörte. Da waren die Eheringe und Handschellen, die man nicht mehr abbekam.
    Während sie die Auslage musterte, beugte der Mann im Frack – den Zylinder hatte er aufgesetzt – langsam den Oberkörper ins Fenster. Die weißen Glaceehandschuhe hatte er ausgezogen und hielt sie in derselben Hand, die schon den schönen ebenholzfarbenen Spazierstock hielt. Sein Lächeln war unverändert, warm und dennoch voll funkelnder Ironie. Er war ein Mann, der zu viel wusste. Langsam und mit einer ausholenden generösen Geste nahm er mit der freien Hand den Zylinder vom Kopf und fuhr damit durchs Fenster als wolle er Seria Maú die ausgelegte Ware offerieren. Gleichzeitig schien er sich selbst zu offerieren. Er war gewissermaßen die Auslage. Das Lächeln blieb unverändert. Langsam setzte er den Zylinder wieder auf, machte in höflichem Schweigen seine Verbeugung wieder rückgängig und verschwand.
    Eine Stimme sagte: »Tagtäglich muss sich das Leben des Traumes bemächtigen und ihn enterben.« Dann sagte die Stimme: »Obwohl du nie herangewachsen bist, ist dies das Letzte, was du als Kind gesehen hast.«
    Seria Maú wachte zitternd auf.
    Sie zitterte und zitterte, bis die Schiffsmathematik Erbarmen hatte, den Tank abließ und bestimmte Bereiche ihres Proteoms mit komplexen synthetischen Proteinen flutete.
    »Hör zu«, sagte die Mathematik. »Wir haben ein Problem.«
    »Zeig her«, sagte Seria Maú.
    Und wieder bekam sie das Verlaufsdiagramm gezeigt. In seiner Mitte – falls man bei der vierdimensionalen Darstellung eines zehndimensionalen Raums von einer Mitte sprechen kann – rückten die Spuren des Möglichen so dicht zusammen, dass sie einen Körper bildeten: eine träge walnussförmige Masse, deren Konturen sich kaum noch veränderten. Seria Maús erster Gedanke war, dass man zu viele Vermutungen angestellt hatte. Das ursprüngliche, sich ad infinitum komplizierende Signal war zu diesem stochastischen Nugget kollabiert und jetzt unlesbarer denn je.
    »Das ist unbrauchbar«, beschwerte sie sich.
    »Scheint so«, sagte die Mathematik gleichmütig. »Aber wenn wir ein System benutzen, das die Dynaflow-Veränderung ausgleicht, und N ganz hoch ansetzen, dann bekommen wir das hier…«
    Es tat einen jähen Sprung. Zufälligkeit gerann zu Ordnung. Das Signal vereinfachte sich und zerfiel in zwei, wobei die schwächere tiefviolette Komponente in raschem Wechsel sichtbar und unsichtbar wurde.
    »Was habe ich da vor mir?«, wollte Seria Maú wissen.
    »Zwei Fahrzeuge«, erläuterte die Mathematik. »Die stabile Spur ist ein K-Schiff. Phasenstarr zu seiner Mathematik ist ein schwerer nastischer Mitstreiter, vermutlich ein Kreuzer. Ein klarer Vorteil ist, dass niemand ihre Kennung identifizieren kann, aber das nur am Rande. Der Kern der Sache ist der: Sie benutzen ein K-Schiff als Navigationsinstrument. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Wer immer den Code geschrieben hat, er ist fast so gut wie ich.«
    Seria Maú starrte auf das Display.
    »Was machen die da?«, sagte sie leise.
    »Oh, sie folgen uns«, sagte die Mathematik.

 
12
     
Das Kaninchengehege
     
    Während sein Adrenalinspiegel sank, pendelte Tig Vesicle zwischen Resignation und einem Zustand angespannter Passivität. Er war verloren, wollte sich aber nicht damit abfinden. Ed Chianese, noch das ferne Gewisper der Dämonen im Ohr, fiel nichts Besseres ein als ihm zu folgen. Er hatte Hunger und ging sich irgendwie selbst aus dem Weg. Nach ihrer Flucht vor den Cray-Schwestern waren sie durch die Straßen östlich der Pierpoint geirrt, bis sie sich auf einer Anhöhe Ecke Yulgrave und Demesne fanden. Von dort konnten sie die Stadt überblicken, wie sie sich, ihr Licht an den größeren Kreuzungen sammelnd, auf breiter Front zu den Docks hinabschwang. In einer Geste neuer Zuversicht hatte Vesicle die Arme auseinander geworfen.
    »Das Kaninchengehege!«
    Sie stürzten sich hügelab in das Labyrinth aus Licht und Dunkel, hatten gleich wieder die Orientierung verloren und streiften ziellos durch die Straßen, als ihnen plötzlich der Wind ins Gesicht blies. Er tat dies, bis sie sich in der finsteren, hallenden, völlig verlassenen Yulgrave wiederfanden, die sich scheinbar endlos zwischen Lagerhäusern und Güterbahnhöfen hinzog. In dieser Straße wurden sie Zeuge eines Ereignisses, das so befremdend war, dass Chianese es verdrängte – von jetzt auf viel später. Auf zu viel später, wie sich herausstellen

Weitere Kostenlose Bücher