Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
Vom Netzwerk:
sollte.
    Als es passierte, dachte er nur dies: Das ist nicht wahr.
    Dann dachte er: Es ist wahr, aber ich bin noch immer im Tank.
    »Ich bin noch im Tank«, sagte er laut.
    Keine Antwort. Er dachte: Vielleicht bin ich jemand anders.
    Es fiel noch immer Schnee, aber warme Luft von der Clinker Bay, geschwängert von den küstennahen Bohrinseln und undichten Fabrikanlagen, hatte ihn zu Schneeregen verwässert, der wie Funkengarben von einem unsichtbaren Amboss durch den Schein der Quecksilberdampflampen fiel. Durch die Funkengarben kam ihnen eine kleine, rundliche, orientalisch aussehende Frau in einem bis zum Oberschenkel geschlitzten Blattgold-Cheongsam (* Chinesische Mode: Einteiliges, tailliertes Kleid mit Schlitz und hochgeschlossenem Kragen.) entgegen. Ihr Gang hatte die hektische Gereiztheit, die durch hohe Absätze bei schlechtem Wetter entsteht. Chianese hätte schwören können, dass sie gerade nicht da gewesen war: Im nächsten Augenblick war sie wieder da. Er blinzelte. Er wischte sich mit der Hand übers Gesicht. Rückblenden, Halluzinationen, die ganzen Albträume eines Twinks.
    »Siehst du sie auch?«, fragte er Vesicle.
    »Ich weiß nicht«, sagte Vesicle teilnahmslos.
    Ed Chianese blickte auf die Frau hinunter, und sie blickte zu ihm auf. Ihr Gesicht stimmte überhaupt nicht. Einmal sah es auf seine orientalische Art (oval und hohe Wangenknochen) ausgesprochen schön aus. Dann drehte sie oder Ed den Kopf ein wenig, und es schien zu verschwimmen und sich in ein gelbes, runzliges Greisengesicht zu verwandeln. Es war dasselbe Gesicht. Gar keine Frage. Aber es war immer im Fluss, immer verschwommen. Manchmal war es gleichzeitig jung und alt. Der Effekt war ganz außergewöhnlich.
    »Wie machen Sie das?«, flüsterte Ed.
    Ohne sie aus den Augen zu lassen, streckte er eine Hand nach Tig Vesicle aus. »Gib mir die Knarre«, sagte er.
    »Warum?«, sagte Vesicle. »Es ist meine.«
    Ed sagte bedächtig: » Gib mir die Knarre!«
    Die Frau zückte ein kleines goldenes Etui, öffnete es und nahm eine Zigarette mit ovalem Querschnitt heraus.
    »Haben Sie Feuer?«, sagte sie. »Ed Chianese?«
    Sie blickte zu ihm auf, ihr Gesicht verschwamm und veränderte sich, verschwamm und veränderte sich. Ein plötzlicher Schneeregenschauer fegte um sie beide herum, heiße orangerote Funken vom Amboss des Augenblicks. Ed nahm den HiLite-Selbstlader aus Tig Vesicles Händen und feuerte aus kürzester Entfernung.
    »Direkt zwischen die Augen«, sollte er später sagen. »Ich schoss ihr aus kürzester Entfernung direkt zwischen die Augen.«
    Im ersten Moment geschah gar nichts. Sie stand weiterhin da und blickte zu ihm auf. Dann schien sie in einen goldenen Strom aus winzigen, elektrisch geladenen Teilchen zu zerfallen, die von der Einschussstelle fortflossen, um sich den Regenfunken anzuschließen. Der Kopf löste sich zuerst auf, dann der Körper. Sie brannte ganz langsam ab, wie ein Feuerwerkskörper, der sich verzehrt, um Licht und Bewegung zu erzeugen. Die Auflösung vollzog sich völlig lautlos.
    Dann vernahm Ed ihre Stimme, ein hallendes Flüstern.
    »Ed«, sagte sie. »Ed Chianese.«
    Die Frau war verschwunden. Ed blickte auf die Waffe in seiner Hand und von der Waffe zu Tig Vesicle auf, der in den Himmel starrte, den Kopf so weit in den Nacken gelegt, dass es ihm in den offenen Mund regnete.
    »Jesus Christus«, sagte Ed.
    Er legte die Waffe ab und beide begannen zu laufen. Nach ein, zwei Minuten hielt Ed inne und lehnte sich an eine Mauer. »Ich kapier das alles nicht«, sagte er. »Und du?« Er wischte sich über den Mund. »Dieser verdammte trockene Brechreiz, ich hasse das.« Schwindlig, wie ihm war, blickte er zu den Sternen empor. Noch mehr Funken, die über den Himmel jagten und kreiselten, um genau über dem Lagerhausdach mit dem rosaroten Fleck des Kefahuchi zu verschmelzen. Das erinnerte Ed an etwas, das er immer schon hatte fragen wollen. »He«, sagte er. »Auf welchem Planeten bin ich eigentlich?«
    Vesicle starrte ihn an.
    »Nun komm schon«, sagte Ed. »Sei fair. Das kann jedem mal passieren.«
     
    New Venusport, der ursprüngliche Vorposten der Erde im Halo.
    Die Militärstädte wucherten auf der südlichen Hemisphäre. Genau genommen handelte es sich um EMC-Camps (* EMC = Earth Military Contracts Inc.), die zu Freihandelszonen erklärt waren. Sie zogen Wanderarbeiter von jenseits des Halo an wie Schwarze Löcher das Gas aus der Akkretionsscheibe. Sie zogen die besiegten Rassen an. Sie zogen die Schwachen

Weitere Kostenlose Bücher