Licht vom anderen Ufer
ihm den Mund auf«, befahl sie. »Nur kein falsches Mitleid. Es muss sein. Auf die Tropfen wird er zunächst einmal zwölf Stunden durchschlafen. Wenn er dann nicht über den Berg ist, will ich nicht mehr Burgl heißen.«
Es war schon ein schweres Stück Arbeit, dem Ohnmächtigen den Löffelstiel zwischen die Zähne zu schieben und dann den Mund aufzusperren. So mochte einst Doktor Eisenbart mit seinen Patienten umgegangen sein. Aber die Burgl zeigte kein Mitleid. Was sein musste, das musste sein. Als es ihr glücklich gelungen war, ihm die Tropfen einzuträufeln, kicherte sie ganz glücklich vor sich hin.
»Tut er dir Leid?«
»Ich denke, er wird nicht viel gespürt haben«, meinte Anna.
»Gar nichts hat er gespürt. Hoffen wir jetzt, dass alles gut wird.«
Tiefe, regelmäßige Atemzüge zeigten an, dass der Flieger in tiefen Schlaf gefallen war. Die Burgl schlüpfte wieder in ihre Jacke und nahm ihre Strohtasche auf.
»Lösch das Licht«, sagte sie. »Bis er wach wird, ist es heller Tag. Lass aber ruhig die Fensterläden noch zu. Man weiß ja nie, ob nicht jemand hineinschaut.«
Anna begleitete die Alte hinaus. Der Mond war inzwischen weitergewandert. Das Wasser im Brunnentrog lärmte, und wie ein ungeheurer Schatten stand das Kruzifix in diesem vagen Licht zwischen Nacht und Mondschein.
»Ist dir jetzt leichter ums Herz?«, fragte die Burgl.
»Ja, aber trotzdem wäre es mir lieber, ich wüsste von der ganzen Geschichte nichts.«
»Wichtig ist nur, dass nichts aufkommt. Wenn es bekannt wird, dass du ihn versteckst, sperren sie dich ein.«
»Was hätte ich denn tun sollen? Hättest du es anders gemacht, Burgl?«
Sofort schüttelte die Alte lebhaft den Kopf. »Ich hätte es genauso gemacht. Aber zwischen mir und dir ist doch ein großer Unterschied. Ich bin ein altes Weib, mit mir können sie nicht mehr viel anfangen.«
Tief atmend sog Anna die kühle Nachtluft ein. »Es ist halt Schicksal, da kann man nichts machen. So etwas kommt plötzlich auf einen zu und man kann sich nicht dagegen wehren.«
»Schicksal?«, kicherte die Burgl. »Dass auch du das abgedroschene Wort brauchst. Nichts kommt unangemeldet auf einen zu. Auch das Schicksal nicht. Es schickt seinen Wind voraus und man muss die Segel richtig stellen, um es aufzufangen.«
»Jetzt redest halt schon wieder so spaßig daher, dass es kein Mensch versteht. Was hätt denn ich schon tun können in dem Fall?«
»Das ist gar nicht so leicht zu sagen. Du fragst auch ein bissl viel, Jungs Weiberl. Du hast zwischen der Lüge und der Wahrheit gestanden. Jetzt musst es mit deinem Gewissen vereinbaren, was besser war.«
Anna brauchte keine Minuten zu überlegen. Entschlossen reckte sie sich.
»So, wie ich es gemacht habe, halte ich es für richtig, Burgl. Aber wenn er wieder halbwegs gesund ist, werde ich ihn weiterschicken. Solange er jedoch hilflos daliegt, werde ich ihn versteckt halten.« Die Stirn vorschiebend, sah sie der Alten fest in die Augen. »Er wird doch wieder gesund, Burgl?«
Die Burgl fand zu dieser bangen Frage nur ein verstehendes Lächeln. Sie hatte schon längst bemerkt, worin Annas Angst in der Hauptsache bestand. Nicht das Entdeckt werden fürchtete sie, sondern dass dieser fremde, junge Mensch sterben könnte.
»Der wird wieder gesund, Anna, verlass dich drauf. Wenn es morgen dunkel wird, komm ich wieder.«
Impulsiv griff Anna nach der Hand der Alten.
»Ich werde mich schon dankbar zeigen, Burgl, wenn alles gut vorbeigeht. Ach, da steht man in der Früh auf und denkt sich gar nichts. Am Nachmittag fällt ein Mensch vom Himmel und mit ihm kommen Unruhe und Angst. Auf einmal hat man eine Last auf seinen Schultern und weiß nicht, wie man sie abwerfen soll.«
»Manchmal ist es so«, erwiderte die Alte in ihrer hinterlistigen Art, »dass eine schwere Last plötzlich ganz leicht wird. Leicht und süß. Aber denk jetzt nicht so viel, Anna. Zu viel denken ist Gift; es wird schon alles recht werden. Leg dich schlafen. Morgen, beim Tag, schaut sich alles viel leichter an. Gute Nacht, Anna.«
Langsam begann die Alte, den Berg hinaufzugehen. Man hörte ihren keuchenden Atem noch eine Weile. Anna sah ihr nach, bis die Gestalt nicht mehr sichtbar war. Dann ging sie in die Hütte. Weil ja nun ihre Schlafkammer belegt war, blieb ihr nichts anderes übrig, als die schmale Treppe zum Heuboden hinaufzusteigen und sich dort schlafen zu legen.
Kaum war es Tag, da kam sie wieder herunter und öffnete vorsichtig die Tür zur kleinen Kammer. Der
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