Licht vom anderen Ufer
umsonst. Denk aber daran, dass auch ich dann reden werde. Und ich werde sagen, dass du die Anzeige unter den Tisch hättest fallen lassen, wenn ich dir zu Willen gewesen wäre.«
Für einen Moment sah der Schleicher sie verdutzt an. Seine dünnen Augenbrauen zogen sich hart zusammen. Dann verzog er den Mund zu einem hässlichen Lächeln. »Ach, so denkst du dir die Tour! Du bist gar nicht so dumm, wie ich gemeint hab. Aber es wird dir nicht viel helfen. Ihr Rauschers seid nicht so gut angeschrieben. Von mir aber weiß man, dass ich dem System verschrieben bin mit Leib und Seele. Den Beweis hab ich schon ein paar Dutzend Male geliefert.« Er schob seinen Hut nach hinten und brachte seine Jacke in Ordnung. »Du kannst es dir noch mal überlegen. Acht Tage gebe ich dir Zeit. Vielleicht überlegst es dir noch, ob es nicht doch besser wär, dich mit mir zu einigen!«
Mit zwei Fingern an seinen Hutrand tippend, drehte er sich um und stelzte hinaus. Bevor er die Tür schloss, drehte er noch mal sein farbloses Gesicht über die Schultern. »Dank dir auch noch recht schön für die Brotzeit.«
Vom Fenster aus sah sie ihm nach, wie er über das Almfeld hinunterlief und dann im Wald verschwand. Dann riss sie das Fenster weit auf, als wäre die Luft, die dieser erbärmliche Mensch hinterlassen hatte, Gift für sie.
Und wieder trat sie hinaus vor das Feldkreuz und hob die Hände.
»Lieber Herrgott, hilf mir, dass alles gut vorübergeht. Es kann doch dein Wille nicht sein, dass so ein schlechter Mensch alles tun darf, was sein teuflisches Gehirn ausbrütet. Du weißt doch, dass ich nie was Unrechtes getan hab und auch meine Eltern nicht. Aber wenn du meinst, dass ich Unrecht getan hab, weil ich den fremden Menschen versteckt hab – dann vergib mir meine Schuld, wie auch ich vergeben werde allen Schuldigern und – erlöse mich von allem Übel, Amen.«
Als sie aufsah, merkte sie, dass es Abend werden wollte. Ein tiefer Atemzug hob ihre Brust. Nun würden sie heute nicht mehr kommen, denn in einer Stunde begann schon die Nacht.
Sie zog sich für die Stallarbeit um und rief nach den Kühen, die folgsam, mit bimmelnder Glocke den Hang heraufzogen und in den Stall trotteten, jede auf ihren Platz.
Die Stallarbeit war getan. Anna hatte sich gewaschen und umgezogen. Draußen stand bereits die Nacht. Es begann zu regnen und der Wind pfiff um die Hütte. Sie machte Feuer im Herd, stellte Milch zum Kochen auf und bereitete das Abendbrot.
Die Erregung des Nachmittags zitterte noch in ihr nach. Sie horchte zur Kammertür, weil sie gemeint hat te, ein Geräusch zu vernehmen. Aber sie musste sich ge täuscht haben. Nur der Wind stöhnte im Gebälk. Sie schloss die Fensterläden und zündete die Petroleumlampe über dem Tisch an. Nach kurzer Zeit strömte das Feuer im Ofen schon eine behagliche Wärme über den ganzen Raum aus. Draußen begann der Regen stärker zu werden und klopfte wie mit Hämmern auf das Schin deldach der Hütte.
Plötzlich fiel ihr die Brieftasche ein, die der Vater ihr übergeben hatte. Es war eine hellgelbe Tasche aus Schweinsleder mit einem silbernen Monogramm »O.P.«
Eine Weile überlegte Anna, ob sie hineinschauen soll te. Sie sagte sich zwar, dass sie kein Recht dazu habe, aber die Neugierde war eben stärker. Die Neugierde nach etwas, wofür sie keinen Namen finden konnte.
Sie suchte nach Fotografien und war ein wenig enttäuscht, als sie zunächst nichts fand als zwei Bilder, die ihn selber darstellten. Eins in Zivil, in einem hellen Zweireiher, das andere in Fliegeruniform vor einem mächtigen Bomber. Erst im zweiten Fach fiel ihr ein Bild in die Hand, das ein älteres Ehepaar darstellte. Zweifellos seine Eltern. Die Ähnlichkeit Olivers mit der Frau war unverkennbar. Endlich fand sie im Seitenfach noch das Bild eines Mädchens von berückender Schönheit. Das gewellte Haar fiel ihr über die Schultern, von denen eine entblößt war. Ein Mund mit herrlichem Schwung und große leuchtende Augen.
Bei diesem Bild blieben Annas Gedanken eine lange Weile. Und sie fühlte etwas in sich, das ein wenig weh tat, eine kleine Enttäuschung, für die es keine Berechtigung geben durfte, die aber doch da war.
Sicher ist es sein Mädchen, sagte Anna sich. Diese Augen wird er lieben. Dieses Haar, diesen schlanken Hals. Wie oft wird er diesen Mund schon geküsst haben und wie wird er gerade in seiner jetzigen Lage Sehnsucht nach ihr haben.
In diesem Augenblick war ihr, als fühle sie die Nähe eines Menschen. Mit
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