Licht vom anderen Ufer
finden würden. Das durfte nicht sein. Sie wusste nicht recht, warum nicht, aber ihr war, als hätte sich in ihrem Leben etwas Grundlegendes geändert, als stünde sie am Anfang von etwas Unbegreiflichem, das alles Vorherige über den Haufen warf. Sie gab sich Mühe, Thomas Staffners Gesicht vor ihr geistiges Auge zu zwingen. Es gelang ihr nicht, es verschwamm wie in einem Nebel.
Er war jetzt fertig mit dem Essen und bat sie um eine Zigarette. »In meinem Anzug müssen welche sein«, sagte er. »Ich weiß nicht, wo du ihn hingetan hast.«
Den Anzug und die Zigaretten muss ich auch noch verstecken, dachte sie und ging in die Kammer, um die Zigaretten zu holen. Eine Weile blieb sie dort im Dunkeln stehen, die Hand auf das heftig klopfende Herz gepresst. Was konnte das nur sein? Dieses Flattern des Pulses? In diesem Augenblick begriff sie, welch unbedeutende Rolle eigentlich Thomas Staffner in ihrem Leben gespielt hatte. Hätte er nur einen kleinen Raum in ihrem Herzen eingenommen, dann könnte es jetzt nicht so rasend schlagen in Angst und Sorge, in Freude und heißer Beglückung zugleich.
Sie brachte ihm die Zigaretten.
»Auch eine?«, fragte er und hielt ihr die Schachtel hin. Sie schüttelte den Kopf und gab ihm Feuer.
»Schmerzt dein Arm noch?«, fragte sie.
Er bewegte ihn vorsichtig. »Ein bisschen brennt es noch. Aber es ist auszuhalten.«
Anna suchte in der Tasche ihres geblümten Rockes und brachte den Splitter zum Vorschein. »Das hat in deiner Achsel gesteckt.«
Interessiert nahm er den Splitter in die Hand und betrachtete ihn. Sein Gesicht wurde ernst.
»Ein wenig weiter links und er wäre ins Herz gegangen. Dann hättest du die ganze Aufregung nicht durchzumachen brauchen.«
»Fang nicht wieder damit an. Gib mir bitte den Splitter. Ich möchte ihn mir aufheben – als Andenken.«
»Als Andenken – an mich?«
Sie fühlte die Röte, die ihr über die Stirn huschte. »Was du dir einbildest! Ich möchte den Splitter haben als Andenken an das Ganze überhaupt. Es fällt ja schließlich nicht jeden Tag ein Mensch vom Himmel. Warum sprichst du eigentlich so gut deutsch?«
Genießerisch sah er dem Rauch seiner Zigarette nach, der unter der niedrigen Holzdecke hing.
»Meine Großeltern waren noch Deutsche und sind von Detmold aus nach drüben ausgewandert. In meiner Familie wird heute noch deutsch gesprochen.« Er betrachtete den Splitter wieder. »Ich hätte das Dingsda, das mir ans Leben wollte, natürlich auch gerne als Erinnerung. Als künftiges Familienerbstück sozusagen, das später einmal meine Kinder bekommen.«
Anna begriff nicht, warum ihr so traurig zumute wurde.
»Ach so«, sagte sie dann. »Ja, dann muss ich ihn dir wohl überlassen. Bist du denn schon verheiratet?«
»Nein«, lachte er. »Aber einmal werde ich es wohl sein.«
»Einmal -ja.«
»Du doch auch?«
»Einmal ja. Vielleicht«, fügte sie hinzu und riss sich plötzlich zusammen. Ein Hirngespinst war zerstoben, eine kurze Wahnidee in nichts zerflossen. »Du heißt Oliver, nicht wahr?«
»Oliver Pratt. Und du?«
»Mein Name ist weniger klangvoll. Anna heiße ich. Anna Rauscher. Oliver«, sprach sie dann langsam nach und schüttelte den Kopf. »Hier heißt niemand Oliver.«
Sie sah ihm dabei in die Augen und sein Blick hielt sie fest. Er verknüpfte ihre Erscheinung noch mit dem, was geschehen war und was sie seinetwegen auf sich genommen hatte. Eine Welle der Dankbarkeit erfasste ihn.
»Du Engel«, sagte er bewegt und griff nach ihrer Hand, legte sie plötzlich auf sein Gesicht und verharrte ganz still.
Anna musste sich Gewalt antun, um nicht über sein Haar zu streichen.
»Engel sehen gewöhnlich anders aus«, sagte sie.
»Kann sein, ich weiß es nicht. Jedenfalls – du bist so gut zu mir wie ein Engel. Du müsstest mich verachten und hassen, stattdessen umsorgst du mich so liebevoll.«
»Warum sollte ich dich hassen?«, fragte sie.
»Das wäre ganz natürlich.« Er zerdrückte die Zigarette auf der Herdplatte und stand auf. Anna blieb unbeweglich sitzen. Ihr war, als sei sie von einem Zauberbann befallen, und sie hätte sich wahrscheinlich auch nicht mehr wehren können, wenn er sie jetzt in seine Arme genommen und geküsst hätte. Aber dazu hatte er nicht den Mut. Er strich mit seinen Lippen nur über ihre Stirn, ganz leicht und in Gedanken. Anna schloss die Augen dabei und wollte an Thomas Staffner denken. Aber sein Bild war weit weg, ganz weit. Nur Oliver erfüllte ihr Denken und sie erschauerte unter seiner
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