Licht
will mich nicht überraschen lassen, möchte von nichts widerlegt oder gebändigt werden, keine Festlegung auf mich selbst oder eine Umgebung. Nichts von mir zu wissen ist das Glück. Ich halte die Augen auch geschlossen, wenn ich wieder weiß, wie alt ich bin. Ich öffne sie erst, wenn ich merke, daß ich von einem Körper berührt werde. Ein anderer Mensch liegt neben mir, das ist erstaunlich. Ich bin nicht allein. Daß du es bist, der neben mir liegt – daß du es bist! Von neuem zu erfahren, wer ich bin und wieder zu wissen, wie ich heiße – das ist jetzt das Glück. Ich bin es, du bist es, es ist ein Morgen im Sommer, es ist das Licht, das lebendige, reine, wunderbare, unzerstörbare, betörende, ganz und gar unbegreifliche Licht, es ist der Anfang eines neuen Tages, wir atmen und sehn uns an, wir geben uns unsere Namen zurück, wir berühren uns und können uns lieben, wir denken an das Frühstück und was darauf folgt, ein Tag im Sommer, gemeinsam und grenzenlos offen, das alles ist einzig.
Seit ein paar Tagen bin ich in meiner Wohnung und weniger oft mit Dole zusammen als früher. Sie macht keine Ausflüchte, aber es scheint ihr nicht möglich, mehr als ein paar Stunden mit mir zu verbringen. Keine gemeinsame Nacht. Das liegt auch an den wahnsinnig vielen Terminen, sagt sie, und an der Aufholarbeit nach langem Fortsein. Ihre Stimme am Telefon ist unverändert, sie erzählt wie immer (am Sonntag sieht die Stadt aus, als sei sie verkauft worden, findest du nicht? so leergeräumt und stehengelassen; aber sonst – ich bin froh, wieder hier zu sein; vermißt du mich? vermißt du das Land? Ich habe heute mittag zwei Stunden frei, wollen wir uns treffen? kommst du zu mir? komm zu mir und küß mich!). Ich stelle mir die Hügel im Regen vor, die Flußniederung im November und die in den Kies geschwemmten Bäume; ich denke noch an den Geruch des Laubs, die Geräusche des Regens. Dole fliegt in zwei Wochen nach Mailand, das heißt: sie sieht den Freund nach Wochen zum erstenmal wieder. Offiziell hat sie dort für eine Zeitschrift zu tun, das sagt sie am Telefon. Wenn wir uns treffen, spricht sie nicht davon. Wir sind etwas müde, aus verschiedenem Grund. Wir sagen: das liegt an der schlechten Luft hier, an der Zentralheizung, an der ganzen Umstellung. Nach so viel Sommer und Licht ist das ganz normal. Paß auf, daß du dir keine Grippe holst. Unmöglich, den Winter anzufangen mit einer Grippe.
Ich bin jetzt oft allein in verschiedenen Bars, aber nicht mehr im Bristol. Möglich, daß auch Dole dort nicht mehr hingeht (und wie gerne hatten wir uns im Bristol getroffen, wo die Tische klebrig waren, die Spiegel blind und die Falten der spanischen Vorhänge voller Staub; dort kamen wir nachmittags mit Kollegen hin und tranken Sekt, wenn wir Geld für mehr als schwarzen Kaffee hatten; es gab dort Tennisplätze, die niemand benutzte, und einen Swimmingpool voll zerschlagener Flaschen). Allein gegen Abend in einer leeren Bar, wenn der Verkehr ruhiger wird und die Geschäfte schließen. Die Luft ist sauber, die Spiegel sind blank, und man sieht noch den Rauch einer einzelnen Zigarette. Man hat eine halbe Stunde Zeit und freut sich wieder auf Weinrausch, Gespräche, Nacht. Ich nehme an, daß auch Dole in einer Bar sitzt, vier Straßen weiter, Sherry trinkend zwischen zwei Verabredungen. Sie hat jetzt ihre Winterkleider an, die weiten, heidelbeerblauen Hosen aus Rom und den schwarzen Mantel. Dole schlank in Schwarz und Blau, mit Ledertasche und Schirm an einer Bar, Briefe lesend, nachdenklich, eine Dame allein (im Sommer trug sie die alten Jeans, ihre Regenstiefel, Sandalen und Vielzweckjacken). Offensichtlich ist sie lieber allein. Sie braucht jetzt Zeit für sich und ihre Erschöpfung, für gespaltene Gefühle, Nervosität, Zweifel. Nicht verabredet zu sein ist ihre und meine Chance. Früher wußten wir mal, was mit uns los war und unsere Fragen ermöglichten eine Antwort.
Nichts mehr ist mitteilbar.
Alles Quatsch und Sherry Brandy, mein Engel.
Mit dir unterwegs zu sein ist immer ungewöhnlich, sagte Dole. Wir machen einen Abstecher auf das Land und am Abend stellt sich heraus, daß wir kurz vor Antwerpen sind. Ist das Absicht oder Zufall? Möchtest du mich überraschen?
Wir fuhren morgens in der Dunkelheit los. Die Ausfallstraßen waren leer, die Tankstellen geschlossen. Im Halbschlaf durchquerten wir die Vorstädte, fuhren an Schrott und Flugplätzen schnell vorbei (ich mag die roten Lichter der Gastürme nicht,
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