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Licht

Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Meckel
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sagte Dole, sie sehn so verfroren und hilflos aus). Westwind rannte über die Ebene, durchwühlte Kiefernwälder an der Chaussee und fiel, nach Blättern duftend, in das geöffnete Wagendach. Über dem Nachtdunst wurde der Himmel hell, schwebende Bläue ohne Vogelflug. Wenn der Berufsverkehr einsetzte, waren wir in der Provinz und frühstückten in einer Wirtschaft, die eben geöffnet wurde; wir bestellten Schwarzbrot, Butter, Honig und mehrmals Kaffee. Doles Gesicht schlief über der rauchenden Tasse und ihre Augen waren nach innen gerichtet – aber ich werde gleich wach, du wirst dich noch wundern, fühl mal meine Hände, die sind schon ganz warm. Auf Nebenstraßen fuhren wir in den nördlichen Frühling. Grauäugiges Eis am Straßenrand, gefrorener Schlamm und schwarze Erde; die Pfirsichblüte wartete auf einen klaren Apriltag. Dole lehnte sich schräg in den Sitz zurück und zündete zwei Zigaretten an. Wenn du mir sagst, wohin wir fahren, lese ich dir die Landkarte vor. Erstmal so weit wie möglich in den Tag.
    Wir freuten uns auf ein paar Tage allein. Zeit, zusammenhängend und ohne Termin, ein glückliches Loch im Kalender, ein Wochenende – wir hatten manchmal vergessen, daß es das gab. Kopfstehn und lachen! Sherry Brandy! Endlich wieder gewissenlos leichtsinnig sein! Weltbummel spielen und Zeit verschwenden, mit dir zusammen ist kein Moment verloren! Ich möchte Dummheiten machen und für nichts um Nachsicht bitten! Ich will eine lange, schlaflose Nacht mit dir! Wir fuhren auf der Autobahn an die Küste oder trödelten auf Sandwegen Überland, standen auf Bootsstegen in der Sonne, fütterten Schwäne mit Frühstücksbrot und fotografierten uns gegenseitig vor Wasser und Himmel. Eigentlich naiv sowas, sagte Dole, aber später freust du dich und siehst dir die Bilder mit der Lupe an. Dole in Regenstiefeln auf einer Fähre, die Hermann hieß und nach Bürgerablage fuhr; Dole in Regenmantel und wehendem Shawl auf der Bretterveranda eines Bierlokals. Sie schwärmte für kleine Museen im Hinterland, ungeheizte Etagen in einem Rathaus mit Feuerlöscher und zerkratzten Vitrinen.
    Dort überlebten die Werke verschollener Meister, schöngefärbte lokale Damen, Stilleben aller Art mit Blumen und Hummern (kein Museum im Hinterland ohne diese Hummern). Und Jagdszenen überall, immer wieder Jagdszenen, ölgemalt und rissig und nachgedunkelt, nirgendwo gab es so viele Wildschweine, Enten, Fasane und Hirsche, angeschossene Jäger und rennende Hunde. Es gab Himmelbetten mit Einsteigetreppen und es gab Kuckucksuhren, die vor 100 Jahren um 20 Uhr 17 für immer stehengeblieben waren. Ein Gemeindediener mit Otterngesicht verwaltete Billettrollen in einer Zigarrenkiste und folgte uns auf knarrendem Parkett. Oder wir besichtigten nichts, aßen Hering mit Zwiebeln auf einem Wochenmarkt und ließen alle Bildungslücken offen. In einem Gemischtwarenladen an der Straße kauften wir für ein Picknick ein und verbrachten den Mittag auf einem hellen Hügel.
    Ich sah sie plötzlich in der Menschenmenge, sie ging vor mir her und war allein.
    Ich hätte sie mit zwei Schritten erreichen können, Arm um ihre Schultern und Hände hoch, Lady! Aber ich ging bloß hinter ihr her (warum ging ich hinter ihr her, da ich doch nicht die Absicht hatte, sie zu beobachten). Ich folgte ihr in der Gewißheit, nicht entdeckt zu werden, gleichzeitig mit dem Wunsch, sie möge sich umdrehn – heftiges, blindes Verlangen nach einem Zufall. Auf der Straße dreht sie sich selten um, sie bleibt vor Schaufenstern stehn und sieht dort hinein mit einer Ausdauer, die mich immer erstaunt hat. Unbegreiflich, was sie dort entdeckt, etwa in den Auslagen eines Kaffeegeschäfts (bei Modegeschäften und Buchläden ist das was anderes). Ich folgte ihr durch die Pariser Straße, ein Stück weit auf den Hindenburgdamm und über die Brücken. Doles Gestalt im Wintertag ohne Schnee, im leichten blauen begeisternden Frost, Dole zurückgezogen in sich selbst, unansprechbare Dole, Gedankenverlorenheit in Schwarz, Windstoß im Haar und wehende Hosen. Sie schien ohne Absicht unterwegs zu sein. So ging sie vor mir her in vielen Jahren, auf Parkwegen, Bahnhofstreppen und barfuß am Strand; Dole in roten Stiefeln auf der Portobelloroad, mit hochgekrempelten Hosen im nassen Gras, und sie drehte sich um, wenn ich rief, und wartete, lächelnd.
    Wo war sie gewesen und wo ging sie hin, eine Frau allein. Dole ins Unrecht gesetzt durch meine Beschattung, und ahnungslos. Als ich sie zu

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