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Licht

Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Meckel
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Unruhe und betriebsame Langeweile – das ist doch ein Alptraum. Menschen, die ihre Zärtlichkeit verloren haben sind unerträglich. Und warum glaubt jeder, funktionieren zu müssen. Ich will nicht funktionieren, ich funktioniere kein bißchen. Zu halben Sachen lasse ich mich nicht zwingen. Ich mache meine Arbeit, mache sie gern und weiß, daß ich sie gut und gründlich mache, aber ich bin nicht verfügbar, und ich halte mich selber nicht für so wichtig, durchaus nicht für unersetzlich im Nervenzentrum der Welt. Und ich halte die nette Freudlosigkeit nicht aus, die fast gewissenlose Bequemlichkeit, die Resignation der meisten, diese schreckliche Resignation mit Krawatte und Doppelkinn. Natürlich sind nicht alle Leute so, aber es sind zu viele, es sind zu viele. Bin ich ungerecht? Sag mir, ob ich ungerecht bin, sag mir was, Gil. Ich verachte niemanden, aber es gibt einen Punkt, an dem ich niemanden mehr verteidigen kann. Zu viele Leute leben auf diesem Punkt. Ich verstehe, daß man dort hinkommen kann, man kann schließlich fast alles verstehn, und man kann so ziemlich überall hinkommen, aber ich will das nicht. Ich lehne es ab. Ich gebe nichts auf und will nichts verlieren. Ich suche keinen sicheren Platz bei den Säulen und pfeife auf alle Bequemlichkeit. Ich bin kein Schrumpfmensch, laufe nicht mit zerdrückter Courage herum. Meine Hoffnung und meine Courage, das ist mein persönliches geistiges Eigentum – lach mich nicht aus. Oder lach mich aus, du kannst mich ruhig auslachen. Ich will, daß mich alles etwas angeht. Ich will nichts auslassen und ich will mir nichts einreden, ich nehme jede Verzweiflung an – wenn die Leute doch richtig verzweifelt sein könnten. Ich will mein Leben nicht billig haben, ich will auch die Liebe nicht billig haben, und für das, was mir fehlt, will ich keinen Ersatz. Ich fühle mich so lebendig, überhaupt nicht resigniert oder klein und unfrei. Hältst du es für möglich, daß wir so abgebrüht wie die andern werden? So gelangweilt und kalt und clever im Sessel sitzen und womöglich gar nicht auf den Gedanken kommen, unser Bestes aufgegeben zu haben? Ach Gil, ich finde es manchmal entsetzlich schwierig, älter zu werden. Küß mich, Gil, sag, daß du mich liebst, sei gut und küß mich.
    Ende des Sommers. Wir fahren zurück in die Stadt.
    Wir haben dort wieder unsere verschiedenen Wohnungen, das eigene Bett und das eigene Telefon, unsere Reisen und Freunde. Wir stecken wieder in der Arbeit fest und treffen uns nicht mehr an jedem Tag. Jedenfalls, ich bin ein Stadtmensch, sagt Dole, ich freue mich wieder auf den ganzen Rummel. Das selbstgerechte Metropolgehabe, die Kinnladen von der Presse, die gewaltigen Eitelkeitsnasen – das ist doch alles ziemlich komisch, diese Krawattenmentalität mit Haifischpraxis, die Empfänge und Konferenzen, das ganze Gerangel – allerdings leicht gesagt nach so einem Sommer! Und die Pommfritzkneipen in der Pariser Straße, die Bars am Vormittag, denk doch mal an den Cappuccinogeschmack, und daß wir wieder die nächtlichen Straßen entlang laufen, das ist doch das Schönste, die kleinen Zufälle und die großen Straßen. Wir strömen ins Kino, ärgern uns über einen Regisseur, der uns nichts angeht und diskutieren mit Leuten, die wir nicht kennen, über Tom Fernandez, den wir nie gehört, gesehn oder gelesen haben. Wir fliegen durch den Winter, bis zum nächsten Mal, bis wir den Limbo wieder verlassen – je vivais dans la dissipation la plus légère – und du?
    Die Koffer stehn gepackt im Flur. Ein paar Sachen sind schon im Wagen, Doles Schreibmaschine, der schwarze Poncho und die Kriminalromane. Ihre Reisekleidung liegt auf dem Bett, blaue Bluse, weinroter Shawl und die weiten, hellen Segeltuchhosen, die sie mir eines Morgens vorführte – in Limoges? in Bordeaux? in der Zeit vor dem Ende des Sommers. Der Bungalow ist aufgeräumt, der Geruch in den Zimmern hat sich verändert, wir sind kaum noch hier, wir sind fast ein Bestandteil der Luft, es riecht nach Mottenpulver und Politur, wir sind die letzten Mieter in diesem Jahr. Das Fenster steht zur Terrasse hin offen, dort riecht es noch etwas nach Erde, Rinde, Laub. Ich freue mich, daß es regnet. Die Nacht ist kalt. Keine Möglichkeit mehr, in die Landschaft zu gehn. Der letzte Abend soll verregnet sein, das sagen wir beide; er soll kalt sein und dunkel, unüberbietbar dunkel. Sintflutnässe verabschiedet einen Ort und weckt die Hoffnung, daß der nächste hell ist. Wir fahren am liebsten

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