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Lichterfest

Lichterfest

Titel: Lichterfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sunil Mann
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beginnen, die letzte, alles entscheidende Schlacht.
    Ich war mir absolut sicher, mein junges Leben in diesem Krankenzimmer aushauchen zu müssen, als José die Rettungsaktion startete: Er schluchzte herzzerreißend. Ohne lange zu überlegen, fiel ich mit ein. Wahrscheinlich wäre der Schwindel bei zwei anderen Männern sofort entdeckt worden, doch wir hatten einen entscheidenden Vorteil: unsere Mütter. Die eine war Spanierin, die andere Inderin. Wenn jemand weiß, wie man melodramatisch schluchzt und grundlos in Tränen ausbricht, dann waren es die Frauen dieser beiden Nationen.
    Als Schuljunge hatte es schon gereicht, wenn ich morgens aus dem Haus ging, um bei meiner Mutter die ersten Tropfen zum Kullern zu bringen. Bei einem Liebesfilm aus Bollywood, so verpönt Überraschungen dort auch waren und eine gewisse Vorhersehbarkeit zum Prinzip gehörte, strömten ihr die Tränen hemmungslos über Wangen und Kinn. Und meldete sich mit zitteriger Stimme die Großmutter, die wie immer an leichtem Unwohlsein und diversen Gebrechen litt, mit einem von schweren Seufzern untermalten Anruf aus der alten Heimat, brach regelmäßig der Staudamm. Bei José musste es ähnlich sein.
    Derart qualifiziert, ließen José und ich unsere Schultern erzittern, schüttelten die Häupter und krümmten uns, unbeschreibliches Seelenleid vortäuschend, in der Hoffnung, dass die Frau, die vor mir stand, unsere Gesichter unter dem Schleier der dunkelblauen Burkas nicht erkennen konnte. Doch sie sah uns nur prüfend an und rief dann etwas in den Raum, worauf das Murmeln, das allmählich wieder eingesetzt hatte, jäh verstummte und uns die ganze Sippe erneut anstarrte. Augenblicklich hörten wir mit dem Theater auf.
    Erst nach einer schier unendlichen Schrecksekunde, in der man eine Nadel hätte zu Boden fallen hören, begannen sich erste Köpfe umzuwenden, Stühle wurden zur Seite gerückt und jemand rief etwas, das ziemlich abgehackt klang.
    Dann löste sich ein Mann aus der Gruppe. Ich schnappte nach Luft, worauf mir die Frau besorgt die Hand auf den Arm legte. Mit Entsetzen sah ich, wie sich Kemal, der kurdische Kioskbesitzer von der Langstrasse, bei dem ich immer meine Zigaretten kaufte, mit energischen Schritten näherte. Ich senkte den Kopf, so tief es ging, während er José und mich an unseren Oberarmen ergriff und dann behutsam zur Tür dirigierte. Wir schluchzten erneut auf, ein letztes Mal erschauderte ich. Aus dem Augenwinkel und durch den Schleier sah ich die Frauen mitfühlend die Köpfe schütteln, während sie sich über einen Plastikbehälter beugten und sich stückweise Baklava unter den Schleier schoben.
    Jetzt schämte ich mich für meine Paranoia. Der Heilige Krieg sah definitiv anders aus. Offenbar konnte man sich der Gehirnwäsche durch die multimediale Propaganda der muslimfeindlichen Gruppierungen selbst als rational denkender Bürger nur schwer entziehen.
     
    Kaum waren wir draußen, streckte uns Kemal zwei Becher dampfenden Tees entgegen. Automatisch nahmen wir die Getränke an und tauschten einen ratlosen Blick aus. Zu trinken war ein Ding der Unmöglichkeit, denn dazu hätten wir die Schleier zurückschlagen müssen, was unweigerlich unsere unrasierten Kinne zur Schau gestellt hätte. Zwar hatte ich gerüchteweise von anatolischen Großmüttern gehört, die angeblich bärtiger waren als Reinhold Messner, doch ich glaubte kaum, dass sich Kemal, der uns abwartend anblickte, davon täuschen ließe. Kurz entschlossen zog er mich von seiner vor der Tür herumlungernden Familie weg und sagte dabei etwas, das vom Tonfall her klang wie: »Oh, dieser Tee riecht ja lecker!«
    Ich nickte zustimmend, und einen Wimpernschlag später hatte er schon seine haarige Hand auf meinem Hintern platziert. Ich zuckte zusammen, war aber geistesgegenwärtig genug, dabei wenigstens den Becher mit dem vermaledeiten Tee zu verschütten. Ich schniefte vorwurfsvoll und fuhr herum. Sein Gesicht war viel zu nah an meinem. Ich konnte die grauen Büschel in seinem Schnurrbart sowie die erregt vibrierenden Nasenhaare sehen und roch seinen Knoblauchatem. Er grinste lüstern, derweil sein glühender Blick den Burkaschleier zu versengen schien.
    Ich schüttelte den Kopf, schluchzte und kicherte und schob ihn weg, doch dies schien ihn erst recht anzuspornen, sein Griff wurde kräftiger, seine Finger krallten sich besitzergreifend in mein Fleisch. Ich stieß ein empörtes Wimmern aus, was José, der sich einige Schritte entfernt hatte, endlich veranlasste,

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