Lichterfest
Vorsichtshalber wimmerte ich eine Runde mit, verstummte aber sofort, als José mit fistelnder Stimme einen Namen nannte.
Die Frau, die dünnes, weizenblondes Haar hatte, das ihr lockig in die sommersprossenübersäte Stirn fiel, warf ihm einen prüfenden Blick zu und tippte dann etwas in den Computer. Während sie auf dem Bildschirm las, zuckten ihre unteren Augenlider leicht. Mit einem Mal sah sie erschrocken aus. Ihre Lippen bewegten sich zwar, doch kein Laut drang heraus. Dann räusperte sie sich und sah uns an. »Sie können Fernando Hirt jetzt nicht besuchen. Er liegt auf der Intensivstation«, sagte sie schließlich.
»Was?« José dehnte die Frage zu einem gequälten Wehklagen, sein ganzer Körper krümmte sich zu einem Fragezeichen. Ich fand, er übertrieb etwas.
Nervös blickte sich die Schwester um, dann beugte sie sich vor und flüsterte so leise, dass ich es kaum verstehen konnte: »Fernando wurde vorgestern Abend Opfer jugendlicher Schläger. Ein äußerst brutaler Überfall.«
Sie richtete sich auf und nickte kaum merklich, wohl um uns verständlich zu machen, dass sie ihre Kompetenzen längst überschritten hatte und nicht gewillt war, weiter Auskunft zu geben. José begann wieder zu heulen, und widerwillig fiel ich mit ein.
»Wo …?«, stammelte er mit hoher Stimme und schniefte dramatisch zur Bekräftigung.
Die Schwester presste die Lippen zusammen und antwortete dann in abschließendem Ton: »Am Escher-Wyss-Platz, Samstag gegen Mitternacht.« Sie lächelte unverbindlich, bevor sie sich mit konzentriertem Blick ihrem Bildschirm zuwandte.
»Also, Fernando Hirt ist achtzehn, macht ein Gastgewerbepraktikum im Hotel Rothaus, wohnt im Kreis 4 und hat einen Schweizer Vater, der sich in Luft aufgelöst hat, als der Junge zwei war. Die Mutter stammt aus Venezuela, sie ist zusammen mit ihrer Schwester seit letzter Nacht bei ihm.« José sah mich von der Seite an, während er das Telefon unter seinen Umhang gleiten ließ. »Kein Wunder, dass wir mit dem Türken nicht weit gekommen sind.«
»Und woher hast du diese Informationen?«
José tat, als hätte er nichts gehört, und zerrte an seinem Schleier herum. »Ich muss dringend aus dieser Burka raus. Das Teil ist ja fürchterlich! Kein Wunder dauert das mit der Emanzipation der arabischen Frauenwelt. Da drin werden die ja förmlich weich gekocht!«
Ich grinste und lenkte meinen Käfer übers Central. Ein strahlender Oktobertag, der Himmel, klar und wolkenfrei, wölbte sich wie eine hellblaue Glaskuppel über Zürich, der Limmatquai und die Schipfe lieferten sich einen Wettstreit um das kitschigste Postkartenmotiv, und als wir über die Bahnhofsbrücke fuhren, standen da am Ufer des Zürichsees plötzlich Berge, zum Greifen nah, wie sie es nur bei föhniger Wetterlage im Herbst taten.
Seit Jahren lebte ich jetzt schon in dieser heruntergekommenen Wohnung an der Dienerstrasse, die für mich Unterkunft und Arbeitsplatz zugleich war. Als ich den Wagen vor dem Gebäude parkte, blickte ich an der Fassade hoch. Sie schien mir zunehmend dunkler und düsterer zu werden, ständig den Abgasen des Verkehrs ausgesetzt, der ununterbrochen über die nahe gelegene Langstrasse kroch, kombiniert mit einer gleichgültigen Verwaltung. Aus den Namensschildern neben den Klingeln stach meines, das zweifelsohne das neuste war, immer noch glänzend hervor: V. J. Kumar, Priva, las ich. Die termittlungen konnte ich nur erahnen, denn davor, mit dem Rücken gegen die Schilder, lehnte ein junger Mann mit bedenklich unreiner Haut und schorfigen, halb geöffneten Lippen. Im ganzen Haus mussten die Klingeln unaufhörlich Sturm schellen, aber dies schien keinem etwas auszumachen. Der Kopf des Typen war kraftlos zur Seite gesunken, der Blick war nach innen gerichtet, sein Hemd fleckig und die Ärmel hochgekrempelt. In der Vene seiner linken, völlig verkrusteten Armbeuge baumelte noch lose die Spritze. So beklemmend dieser Anblick auch war – für dieses Quartier war das nichts Neues.
Schon seit jeher hatte die Stadt unangenehme Themen in diesen Bezirk ausgelagert. So stand bereits im zwölften Jahrhundert das Siechenhaus hier, welches später in ein Pfrundhaus umgewandelt wurde, was nur wenig repräsentativer war. Auf dem Helvetiaplatz, wo heutzutage zweimal die Woche knuspriges Holzofenbrot, Biogemüse und frisch gefangene Zürichseefelchen zu sehr helvetischen Preisen auf dem Markt angeboten wurden, richtete man früher Verbrecher hin, und auf dem ehemaligen
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