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Lichterfest

Lichterfest

Titel: Lichterfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sunil Mann
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Galgenhügel hatte der Architekt und Schriftsteller Max Frisch unbekümmert ein Freibad gebaut. Später brachte man in diesem Stadtkreis die zugewanderten Gastarbeiter unter, hauptsächlich Italiener, die im Bau und bei der Erstellung des Eisenbahnnetzes tätig waren, und nicht zuletzt befand sich auch das Rotlichtmilieu hier.
    Doch mit dem Knapperwerden des Wohnraums in der Stadt entdeckte man das Potenzial des Quartiers, gerade für eine gut betuchte Klientel. Was aber voraussetzte, dass man das soziale Umfeld etwas aufpeppte, denn wer wollte schon Tür an Tür mit Randständigen wohnen. Die Verantwortlichen merkten jedoch schnell, dass es keinesfalls reichte, einfach alle zum Friseur und zum Zahnarzt zu schicken und sie mit hübschen Kleidchen auszustaffieren. Daher führte die Polizei im Bestreben, das Quartier ›aufzuwerten‹, wie man es elegant nannte, rigorose Kontrollen durch. Situationen wie die vor meiner Haustür waren selten geworden, doch einige Junkies schafften es trotzdem immer wieder, mit der schlafwandlerischen Sicherheit der Vollgedröhnten an den Patrouillen vorbei in die Hinterhöfe und Seitengässchen zu torkeln. Ich war den Anblick gewohnt, ebenso José. Wir hatten schon hier gelebt, als es noch eine offene Drogenszene gab und man morgens im Hauseingang regelmäßig über Junkies steigen musste.
    Da der Junge völlig benommen war, schoben wir ihn gemeinsam von den Klingeln weg. Er stöhnte, und wir ließen ihn so behutsam wie möglich zu Boden gleiten, wo er apathisch sitzen blieb und durch uns hindurchstarrte. Früher oder später würde er von allein wieder zu sich kommen. Ich tippte eher auf später.
    Im Treppenhaus flackerte eine nackte Glühbirne, und von der Decke hingen grauschlierige Kabel. In meiner Wohnung klemmten die Rollläden und rasselten bei windigem Wetter wie alte Blechbüchsen an einem Auto von Frischvermählten. Die Dichtungen der Fenster waren hin, sodass im Winter eisiger Wind für sibirisches Flair sorgte. Und relativ häufig konnte es passieren, dass man eingeseift unter der Dusche stand und im günstigsten Fall noch kaltes Wasser vorhanden war, manchmal war es obendrein zu einem dünnen, hämisch tröpfelnden Rinnsal versiegt. Doch etwas anderes hätte ich mir nicht leisten können. Deswegen war ich froh, dass der Wohnblock, im Gegensatz zu so vielen anderen in der Umgebung, noch nicht aufgekauft worden war, um entweder umgebaut oder gleich abgerissen zu werden, um Raum für horrend teure Apartments und Loftwohnungen zu schaffen. Denn ich lebte gern in diesem Quartier.
    »Endlich!« Ich streifte die Burka ab und warf sie über das Sofa, welches neben der Tür stand und allfälliger Kundschaft zugedacht war. Während José den Schleier zurückschlug und sich sofort eine Zigarette ansteckte, stellte ich fest, dass mein Hemd nass geschwitzt war und am Oberkörper klebte. Rasch öffnete ich die Gürtelschnalle und knöpfte die Hose auf, zog die Hemdzipfel heraus und schleuderte das Kleidungsstück Richtung Badezimmer. Ich überlegte gerade, meine Hose ebenfalls auszuziehen, als es klopfte. Schwungvoll riss ich meine Wohnungstür auf und erstarrte mitten in der Bewegung.
    »Vijay Kumar?«
    Ich nickte, während der massige Mann mit verblüffender Selbstverständlichkeit hereinmarschierte und dabei zuerst mich und meinen Aufzug und dann misstrauisch die Wohnung beäugte. Wo er José entdeckte, der geistesgegenwärtig den Schleier übers Gesicht gezerrt hatte.
    Der Mann zwinkerte irritiert, taxierte noch einmal meinen nackten Oberkörper und die offene Hose und schien das alles als wenig vertrauenswürdig einzustufen.
    »Sind Sie der Privatdetektiv?«, fragte er in ungläubigem Tonfall.
    Worauf ich erneut und viel enthusiastischer nickte. »Kommen Sie nur rein!«
    »So.« Er schien zu der Sorte Männer zu gehören, die niemals auf die Idee kamen, dass sie stören könnten. Aufmerksam sah er sich um, als halte er Ausschau nach den Notausgängen.
    Dann wandte er sich wieder mir zu. »Ich hab schon gestern versucht, Sie zu erreichen.«
    Vage erinnerte ich mich an die Kreissäge, die sich durch mein Gehirn gefressen hatte. Dass es ein Kunde sein könnte, war mir im Delirium nicht einmal ansatzweise eingefallen.
    »Sonntag ist Ruhetag«, bemerkte ich knapp.
    »So? Kundenfreundlich ist das nicht gerade.«
    Anstelle einer Antwort musterte ich ihn schweigend. Seine äußere Erscheinung war beeindruckend. Groß gewachsen, breit, ohne übergewichtig zu wirken, ich schätzte ihn auf

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