Lichterfest
Umschlag?«
Sie zögerte. »Das hingegen könnte schon sein, es war ja dunkel und darauf habe ich wirklich nicht geachtet.«
Nachdenklich rührte ich in meiner Tasse, in der längst kein Kaffee mehr war.
Hatte Graf Fernando verfolgt und dann die Burschen aufgehetzt, damit sie den Jungen verprügelten und er ungestört an die Bilder kam? Mir schien das auf Anhieb wenig glaubwürdig.
»Möchten Sie noch einen Schluck?«, fragte Claire.
Ich lehnte dankend ab. Etwas an ihrer Erzählung war nicht stimmig, doch ich kam nicht drauf, was es war.
»Kurz danach ist er zurückgekehrt«, sagte Claire plötzlich in die Stille hinein.
»Wer?«
»Der Graf.«
»Wie kurz danach?«
»Etwa eine Viertelstunde.«
Ich horchte auf. Eine Viertelstunde hätte niemals gereicht, um bis zum Escher-Wyss-Platz zu gelangen, die Sache ins Rollen zu bringen, nach der Prügelei Fernando zu durchsuchen und wieder zurückzukommen.
»Trug er den Schal immer noch?«
Claire zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Er fuhr mit dem Auto direkt in die Garage. Ich habe ihn später in der Küche rumlaufen sehen, aber da hatte er Mantel und Hut bereits abgelegt.«
»Und Sie sind sich sicher, dass es Walter Graf war, den Sie im Haus gesehen haben?«
»Absolut sicher, er hat mir ja noch rübergewunken.«
»Claire, ich muss jetzt gehen. Sie haben mir sehr geholfen.«
Sie ergriff meine Hand. »Kommen Sie wieder einmal zum Kaffee, bitte. Ich freue mich immer so sehr über Besuch.«
Ohne zu zögern versprach ich es.
Aus dem Radio trällerte Lady Gaga wieder einmal ihren neusten Hit, in dem sie sich nach dieser schlechten Romanze verzehrte. Ich dachte kurz an Manju und lenkte dann meine Gedanken schnell in eine andere Richtung und den Käfer am Hauptbahnhof vorbei. Wie es schien, hing die Suche nach Rosie irgendwie mit Grafs Tod zusammen. Nur war mir im Moment nicht einmal ansatzweise klar, was das eine mit dem andern zu tun hatte.
So ausführlich Claires Bericht über ihre Beobachtungen am Samstagabend auch gewesen war, restlos überzeugend fand ich ihn nicht. Es schien mir unwahrscheinlich, dass Graf Fernando gefolgt war und ihn dann hatte verprügeln lassen, um ungestört an die Fotos zu gelangen. Zudem hatte sie beobachtet, dass er nur eine Viertelstunde später mit dem Auto nach Hause gekommen war. Das wäre nicht zu schaffen gewesen. Und woher sollte er auch plötzlich das Auto haben? Auch seine Statur war nicht diejenige des Mannes, den wir bei Fernando gesehen hatten, der war nämlich schlank und wendig gewesen. Beides konnte man von Graf nicht behaupten. Also konnte es genauso wenig der beinahe siebzigjährige, beleibte Politiker gewesen sein, der den Jungen im Spital aufgesucht hatte, denn der wäre mir bei der Verfolgungsjagd durchs Niederdorf sicher nicht entwischt. Alles sprach dafür, dass es in beiden Fällen nicht Graf selbst gewesen sein konnte. Claire hatte einfach angenommen, dass er es war. Genau gesehen hatte sie ihn ja nicht, wenn man von der Winkerei am Fenster absah. Und die fand etwa zu der Zeit statt, als der Vermummte am Escher-Wyss-Platz Fernando durchsucht hatte. Aber wer war der Vermummte dann?
Ich fuhr langsam durch den Kreis 5 und setzte den Blinker, um in die Langstrasse einzubiegen. Als ich schon daran dachte, mir eine Pizza zu bestellen, um mir die Wartezeit zu verkürzen, hatte endlich jemand Erbarmen und ließ mich einspuren.
Im Radio interviewte man gerade Monika Luger, eine linke Politikerin, die ebenfalls für das Stadtpräsidentenamt kandidierte. Frau Luger, die in den Umfragen stets knapp hinter Graf gelegen hatte, äußerte sich entsetzt über den Raubmord an ihrem ehemaligen Konkurrenten und verurteilte diese barbarische Tat aufs Schärfste. Sie selbst habe schreckliche, schreckliche Stunden hinter sich und könne ihre Trauer kaum in Worte fassen. Sie beschrieb Graf als einen ›Mann mit Visionen‹, mit dem sie viele gute Erinnerungen und fruchtbare Gespräche ›auf Augenhöhe‹ in Verbindung brachte. Gleichzeitig betonte sie aber, dass nichtsdestotrotz der Wahlkampf weitergeführt werde. Die Leute würden sich gerade in solch unsicheren Zeiten nach einer starken Führungspersönlichkeit sehnen. Selbstredend meinte sie damit sich selbst.
Ich fragte mich, ob der Auftrag, Graf in einer kompromittierenden Situation zu fotografieren, von ihr stammte. Unmöglich schien es mir nicht, doch wahrscheinlich würde ich es nie herausfinden.
Plötzlich erinnerte ich mich, dass mich vorhin noch
Weitere Kostenlose Bücher