Lichterfest
Spital bringen.«
Er streckte zitternd die Hand aus und zog mich am Hemdkragen zu sich herunter. »Ich weiß nicht, wo die Tasche ist«, krächzte er mit heiserer Stimme. »Ich habe es ihm immer wieder gesagt, aber er hat mir nicht geglaubt und weiter auf mich eingedroschen.«
»Hast du einen Umschlag darin gefunden?«
Er schüttelte schwach den Kopf. »Hat er auch gefragt.«
Also hatte Schluep dieselbe Spur verfolgt wie ich. YouTube. Und Hassan ausfindig zu machen dürfte nicht allzu schwierig gewesen sein. José hatte Dragan auch innert kürzester Zeit gefunden. Ich musste mich beeilen, Schluep war mir einen Schritt voraus. »Keinen Umschlag?«
»Ich weiß es nicht. Seit dem Wochenende habe ich nicht mehr in die Tasche geguckt«, flüsterte er.
»Wieso?«
»Montag und Dienstag arbeite ich, Mittwoch gehe ich zur Schule. Heute habe ich nur schnell eines von Mamas Pidebroten reingeschoben, bevor ich sie umgehängt habe.«
»Wann hast du sie zuletzt gesehen? Erinnerst du dich?«
Er deutete ein Nicken an. »Heute Morgen, als ich zur Schule ging.«
»Hast du sie dort vergessen?«
»Nein, ich hatte sie noch bei mir, als ich das Schulhaus verließ.«
»Wieso bist du dir da so sicher?«
Er zögerte. Ich beugte mich so tief zu ihm hinunter, dass seine Lippen beinahe mein Ohr berührten. Sein Atem roch würzig, nach Koriander und Kreuzkümmel.
»Weil ich das Pidebrot rausgenommen habe, um es wegzuschmeißen. Niemand bringt heute noch so was mit, wir essen alle bei McDonald’s oder im Food Court der Migros. «
Sein Atem kitzelte an meinem Ohr.
»Aber sagen Sie meiner Mutter bitte nichts, das gäbe ein höllisches Drama.«
Ich versprach es und erinnerte mich dabei an meine eigene Schulzeit. Schon da war es nicht anders gewesen. Ich hatte keine Ahnung, wie viele der üppigen Lunchpakete, die mir meine Mutter jeweils eingepackt hatte, im Abfalleimer des Schulhauses Wengi gelandet waren, nur weil es mir peinlich gewesen war, die intensiv riechenden indischen Esswaren vor meinen befremdet guckenden Klassenkameraden auszupacken, während diese Silber-Beefys mit Käse und Cole Slaw aus der Silberkugel in sich hineinstopften. Ich verstand den Jungen nur zu gut.
»Ich muss die Tasche irgendwo liegen gelassen haben«, mutmaßte Hassan junior, während mich plötzlich jemand mit eisernem Griff am Oberarm packte. Wie elektrisiert fuhr ich herum.
»Gib mir zwei Minuten, und ich sag dir, wo du den Typen findest«, stieß ich hervor und blickte dabei Hassan, dem Älteren, fest in die Augen. Das war zwar hoch gepokert, schien jedoch zu wirken. Immerhin ließ er meinen Arm zögernd los, blieb aber unangenehm nah neben mir stehen. Der Clan hatte sich mittlerweile im Halbkreis hinter uns aufgestellt und beobachtete aufmerksam, was sich abspielte. Mir wurde etwas mulmig.
»Wo warst du überall?« Ich beugte mich wieder zu Hassan junior hinunter.
»In einem Plattenladen. Jamarico beim Helvetiaplatz, dann im Kleidergeschäft nebenan.«
»Hast du den Beutel an beiden Orten abgelegt?«
»Nur im Kleiderladen, weil ich ein Hemd anprobiert habe.«
Ich stutzte. Dann näherte ich mich seinem Gesicht und schnupperte. Koriander und Kreuzkümmel. Es war mir schon vorhin aufgefallen, doch ich hatte dem keine Bedeutung beigemessen.
»Warst du vielleicht noch irgendwo essen?«
Seine Miene verzog sich schuldbewusst. »Ja, richtig. Indisch, in dem Laden an der Langstrasse.«
»Hast du ihm das auch erzählt?« Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Es gab nur einen indischen Laden in der Gegend.
Hassan verneinte. »Ich hatte ja selbst nicht mehr daran gedacht.« Sein malträtiertes Gesicht begann kindlich zu strahlen. »Aber dort habe ich den Shopper auch abgelegt. Neben dem Stehtisch auf den Boden.«
Ich ließ mir nichts anmerken. »Okay. Ich bin sicher, so finden wir den Typen und auch deine Tasche.«
Hassan setzte eine verschwörerische Miene auf und zog mich erneut zu sich hin. »Aber sagen Sie meiner Mutter nicht, dass ich so kurz vor dem Nachtessen …«
»Keine Sorge.« Ich drückte seine Hand und wandte mich dann um. »Jemand muss ihn ins Spital bringen«, ordnete ich mit heiserer Stimme an. Keiner regte sich.
»Jetzt!«, brüllte ich, und die Leute in den ersten Reihen zuckten erschrocken zurück. Ein Flüstern ging durch die Lagerhalle, unsichere Blicke wurden ausgetauscht und geschäftig Umhänge gerafft, man tuschelte, während die drei älteren Frauen die Köpfe zusammensteckten und sich leise berieten, dann richtete sich
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