Lichterfest
Alice Graf wurde eingespielt. Darin beklagte diese den tragischen Verlust ihres Mannes und betonte gleichzeitig, dass sie derjenigen Person, die am Wochenende zum Stadtpräsidenten gewählt würde, alles Gute wünsche und die nötige Kraft, dieses anspruchsvolle Amt zu bewältigen. Des Weiteren bedauerte sie den Raub des Gemäldes von Ferdinand Hodler, dieses hätte ihr und vor allem ihrem verstorbenen Ehemann sehr viel bedeutet. Die Nachrichtensprecherin fügte an, dass Alice Graf nach dem Mord an ihrem Mann einen Zusammenbruch erlitten hätte, aber bald aus der Klinik entlassen werden könne.
Ich zündete mir eine Zigarette an und las das ausgedruckte Dokument erneut. Fernando hatte es gut gemeint, er war zweifelsohne ein fürsorglicher Junge. Leider auch ziemlich naiv, wie der Inhalt des Briefes schonungslos enthüllte. Noch war mir schleierhaft, in welchem Zusammenhang sein Schreiben zu den anderen Ereignissen stand. Um es richtig einordnen zu können, brauchte ich eindeutig mehr Informationen.
Ich wählte Josés Nummer. Es war ohnehin Zeit für eine Aussprache.
»Mittagessen?«, fragte ich zwanzig Minuten später und hielt ein leeres Glas in die Höhe. José nickte abwesend, und großzügig schenkte ich den Whisky ein. Ein paar Eiswürfel rein, fertig war die Mahlzeit. So schnell waren nicht einmal die hibbeligen Fernsehköche und die Zubereitung ging gänzlich ohne unablässiges Geschnatter vonstatten. Ich stellte die beiden Gläser auf den niedrigen Beistelltisch, auf dem sich Illustrierte und nicht mehr ganz aktuelle Zeitungen stapelten, und setzte mich neben José auf mein abgewetztes Sofa.
»Weshalb wusstest du, dass ich Zugriff auf Fotos vom Tatort habe?«
»Reine Vermutung«, grinste ich unschuldig, doch José mus terte mich scharf.
» Hombre, das kauf ich dir nicht ab!«
»Dann lass es mich zusammenfassen: Fiona.«
»Ach?«
»Mit einem ›Ach‹ kommst du diesmal nicht davon.«
»Nein?«, José lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.
»Nein. Diese ganze Geheimniskrämerei … Seit Tagen geht das jetzt schon! Also habe ich nachgedacht, rekonstruiert und kombiniert und bin darauf gekommen, dass es Fiona sein muss.«
»Was muss sie sein?«
»Deine Informationsquelle. Sie ist Fotografin, das habe ich der Tasche angesehen, die sie getragen hat, als sie gestern deine Wohnung verließ. Eine professionelle Fototasche. Und ihrem dunkelblauen Opel Omega nach zu urteilen, arbeitet sie bei der Polizei. Deswegen wusstest du, was mit Graf geschehen war, bevor überhaupt die erste offizielle Pressemitteilung veröffentlicht wurde. Und deshalb kamst du auch scheinbar mühelos an die ganzen Informationen zu Fernando und allem, was mit Grafs Tod zu tun hatte. Das Missverständnis zu Beginn mit dem falschen Jungen haben wir einzig der Tatsache zu verdanken, dass wir davon ausgegangen waren, dass es sich bei ihm um einen Türken handelt. Entsprechend falsch waren Fionas Angaben. Erst durch deinen klärenden Anruf vor dem Spital gelangten wir zum richtigen Opfer.«
»Sonst noch was?«
»O ja, ich bin noch lange nicht fertig. Fiona ist nicht nur eine Polizeifotografin, die einem Journalisten verbotenerweise Fotos von einem Tatort zur Verfügung stellt …«
»Du hast selbst gesagt, dass es für dich äußerst wichtig sei, die Aufnahmen zu sehen!«
»Ist es auch! Aber Fiona ist noch viel mehr: Sie ist deine Freundin.«
»Ach?«
»Verschanz dich nur hinter deinen ›Achs‹! Seit Tagen hast du keinen Blick mehr für andere Frauen, als hätten sie für dich plötzlich aufgehört zu existieren. Dein Sarkasmus, deine beißende Ironie – wie weggewischt! Und du hast erstmals deinen Marihuanakonsum hinterfragt. Obwohl ich da erst eine einsetzende Altersmilde vermutet habe. Doch dann habe ich bemerkt, wie gedankenverloren du andauernd wirkst, als seist du gar nicht richtig anwesend. Wenn man dich etwas fragt, muss man sich mit der Antwort gedulden, bis du dich wieder in dieser Welt zurechtgefunden hast. Und als sich die Nachricht von Grafs Tod wie ein Lauffeuer verbreitete, hattest du dein Handy ausgeschaltet, wahrscheinlich, weil du mit ihr zusammen warst. Das war etwas, das bei dir sonst niemals vorkommt. Zwar hat mich das zuerst besorgt, dann aber auf die richtige Spur gebracht: José, du bist verliebt!«
José glotzte mich mit weit aufgerissenen Augen an, wie ein Goldfisch, den man in heißes Wasser geschmissen hatte. Sein Mund stand offen, doch kein Wort kam über seine Lippen.
»Und jetzt rück
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