Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
gesprungen. Hatte er eine Abkürzung gekannt, die auf Crysons Karten nicht verzeichnet war? Oder hatten die anderen Männer nach Verstärkung gerufen? Jil hatte keine Zeit, sich Gedanken über die Antworten zu machen. Der Mann hatte seine schwere dunkelblaue Jacke abgelegt, in seiner rechten Hand hielt er seine Pistole zum Schuss bereit. Jil gelang es im letzten Augenblick durch einen Haken nach links auszuweichen. Sein Griff mit der freien linken Hand ging ins Leere. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Jil sein vor Wut und Anstrengung verzerrtes Gesicht gesehen. Tiefe Falten gruben sich um seine Augen, die Jil böse anfunkelten.
Jil stolperte. Sie wusste nicht, was sie zum Straucheln gebracht hatte, aber es hatte sich um ihren linken Fuß geschlungen und ihn für einen Moment festgehalten. Vermutlich war es der Ausläufer eines dornigen Brombeergebüsches gewesen. Jil hatte Stoff reißen hören und ein stechender Schmerz schoss in ihr Schienbein.
Der Soldat kam näher. Er stürzte sich mit einem gewaltigen Satz auf Jil und bekam ihre Bluse zu fassen. Die Pistole fiel zu Boden, ein Schuss löste sich, traf jedoch nur Luft. Jil schlug hart mit Brust und Handflächen auf den feuchten Wiesenboden auf. Der Mann griff nach ihren Handgelenken, in seinem Blick lagen Triumph und Wahnsinn.
»Jetzt hab’ ich dich«, keuchte er völlig außer Atem. »Niemand darf Falcon’s Eye ohne Genehmigung betreten.«
Jil hörte bereits die Schritte seiner Kollegen, die nun wieder näher herankamen. Die Panik und die Wut über den jähen Freiheitsentzug verliehen Jil ungeahnte Kräfte. Mit aller Wucht trat sie aus. Unbeabsichtigt traf sie den Mann an einer empfindlichen Stelle zwischen seinen Beinen. Er stieß einen Schrei aus. Augenblicklich ließ der Druck auf Jils Handgelenke nach. Ohne eine weitere Sekunde zu verlieren, richtete sie sich auf und setzte ihre Flucht fort.
Die ersten Bäume waren nun zum Greifen nah. Ein letzter Schuss gellte durch die Luft, bevor Jil in die schützende Dunkelheit des Waldes eintauchte. Obwohl die Schritte hinter ihr längst verstummt waren, rannte sie unbeirrt weiter. Dieser Wald, der überwiegend aus alten Eichen bestand, jedoch stellenweiße mit Fichten und Tannen aufgeforstet worden war, war mehrere Hektar groß, bot also vorläufig genügend Verstecke. Im hinteren küstennahen Teil des Waldes gab es eine Erhebung, auf deren Gipfel ein Tempel stand. Ein Trampelpfad führte von der Stadt aus direkt dorthin. Immer wieder kamen Pilger, um sich den Weißen Obelisken anzusehen, der auf dem Dach des Tempels thronte. Die meisten dieser Menschen kamen wie Jil mithilfe von Schmugglern hierher. Niemand wusste, wer den Tempel errichtet hatte und welcher Gottheit dort einmal gehuldigt wurde. Viele Ansichtskarten von Haven widmeten sich diesem Motiv.
»Aaaaah!« Jil hatte den Schrei nicht unterdrücken können. Das Geräusch knackender Knochen ließ ihr einen unangenehmen Schauer über den Rücken laufen, gleichzeitig schoss ein Schmerz, der die beinahe die Besinnung gekostet hätte, in den linken Fuß. Sie ließ sich auf die Knie fallen. Vor Schmerz und Erschöpfung hätte sie sich beinahe übergeben müssen.
Ihr Fuß steckte in einer Vertiefung, vermutlich ein Kaninchenbau. Vorsichtig griff Jil sich mit der linken Hand in die Kniekehle und versuchte, ihren Fuß herauszuziehen. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Es nutzte nichts, der Fuß blieb stecken. Hastig öffnete sie die Verschnürung ihrer Lederstiefel und befreite den Fuß auf diese Weise doch noch aus seinem Gefängnis. Auch wenn er noch in den Socken steckte, erkannte Jil, dass der Fuß geschwollen war. Mit zusammengebissenen Zähnen zwang sie sich, die Knochen alle einzeln abzutasten. Keiner war gebrochen, aber den Knöchel hatte sie sich wohl verstaucht. Sie zerrte den feststeckenden Stiefel aus dem Loch und wollte ihn wieder anziehen, aber der Fuß wollte einfach nicht mehr hineinpassen.
Dann eben ohne Schuhe .
Jil erhob sich und setzte den Fuß vorsichtig auf. Der Schmerz war überwältigend. Es hatte keinen Sinn. Sie konnte nicht mehr laufen.
Jil ließ sich auf ihr Hinterteil fallen und krallte sich mit den Fingern in den feuchten Waldboden. Sie presste die Kiefer aufeinander, bis ihre Zähne schmerzten. Sie musste sich beherrschen, den Wutanfall zu unterdrücken, der langsam in ihr aufstieg. Ihr Gesicht war nass von Tränen. Ob es Tränen des Schmerzes, des Selbstmitleids, der Wut oder der Verzweiflung waren, vermochte sie nicht
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